Das Ziel unserer Wege
von Peter Godzik
Ende August/Anfang September beginnt wieder die Schule. Aber nicht nur die Schülerinnen und Schüler machen sich daran, eine neue Wegstrecke in Angriff zu nehmen. Auch viele Erwachsene kehren aus dem Urlaub zurück und beginnen in diesen Tagen wieder mit einem neuen Stück ihres Berufs- und Lebensalltages. Was wird uns der Weg bringen, auf den wir uns nun begeben? Wohin gehst Du? Wohin gehe ich? Um dieser Frage etwas näher zu kommen, möchte ich mit Euch, mit Ihnen, das Bild vom Labyrinth in der Kathedrale von Chartres betrachten. Es stammt aus dem 12. Jahrhundert, hat zwölf Meter Durchmesser und heißt Lieu, Meile, der zu gehende Weg.
Haben Sie schon einmal versucht, den Weg des Labyrinths zu begehen? Versuchen Sie es einmal, ohne Finger oder Stift nur mit den Augen, die Linien von außen bis ins Zentrum und zurück nachzufahren. Es ist gar nicht so einfach. Besonders an den Kurven wird es schwierig. Aber irgendwann merkt Ihr, merken Sie dann, dass es gar kein Labyrinth wie in der griechischen Sage von Theseus, Ariadne und Minotauros ist. So verschlungen und unübersichtlich dieser Weg auch aussieht, man kann sich auf ihm nicht verlaufen. Der Weg führt nur zu einem einzigen Ziel.
Am Anfang führt der Weg fast direkt auf die Mitte zu. Ich glaube mich dem Ziel ganz nahe. Aber in kurzen Schwüngen leiten mich die Kurven wieder von der Mitte weg, um mich im nächsten Moment dem Mittelpunkt wieder hoffnungsvoll nahekommen zu lassen. Dann führen mich die Linien in die "hinteren Reihen" des Labyrinths. Ich bewege mich immer weiter weg von der Mitte. In großen, weiten Schwüngen laufe ich die Ränder des Labyrinths ab, erst die linke, dann die rechte Hälfte. Einmal noch muss ich ganz an den Rand, um nach einer letzten Kurve die Mitte zu erreichen. Ein geheimnisvolles Symbol für unser Leben!
In dem Labyrinth können wir ein Kreuz erkennen. Trotz seiner verschlungenen Wege bekommt das Labyrinth dadurch eine gewisse Regelmäßigkeit. Wenn ich in dieses Labyrinth meines Lebens eintrete, sei es in Gedanken oder mit meinen Füßen, dann betrete ich also keinen Irrgarten, aus dem ich vielleicht nicht mehr herausfinde, so wie es Theseus in der griechischen Sage befürchtete und sich mit dem Ariadne-Faden dagegen schützte, sondern mein Weg hat ein festes, unverrückbares Ziel.
Das Labyrinth von Chartres spricht meine Sehnsucht an, endlich einen Weg zu meiner Mitte zu finden und dem Sinn für mein Leben auf die Spur zu kommen. Von dieser Mitte sagen wir Christen, dass sie Jesus Christus selbst ist. Finden wir zu dieser Mitte, finden wir zu uns selbst und zu Gott. Unser ganzes Leben, von dem der jetzt vor uns liegende Abschnitt nur ein Teil ist, ist der Weg hin zu dieser Mitte. Treten wir einmal in diesen Lebenskreis ein, ist unser ganzer Weg, unser ganzes Leben, von dieser Mitte her bestimmt. Ob wir uns nun ganz am Rande fühlen oder nahe der Mitte sind - wir können nicht aus diesem Lebenskreis herausfallen, sondern haben an allen einzelnen Punkten des Labyrinths, an allen einzelnen Stationen unseres Lebens, Kontakt und Bezug zu dieser Mitte. Wir können Gott nicht ausweichen. Und wir können sicher sein, dass uns Gottes Schutz und Treue begleiten.
In: Dom-Informationen, September 1994.