Kleine "Ästhetische Phänomenologie" der Emmaus-Perikope
Ebenso wie bei der Analyse der Geschichte der JHWH-Offenbarung vor Mose im Brennenden Dornbusch leitet uns jetzt die Frage nach der ästhetischen Dimension von Offenbarung. Dafür bietet sich die Emmaus-Geschichte in Lk 24 aus mehreren Gründen an. Zum ersten handelt es sich offensichtlich um eine der ältesten Auferstehungstraditionen des Neuen Testaments. Ferner wird in dieser Geschichte in einer unerhörten theologischen Dichte in "grundsätzlicher Weise über das Problem reflektiert, was christlichen Glauben ermöglicht und welche Züge sein Wesen konstituieren". Und drittens ist der Inhalt der Perikope dadurch charakterisiert, daß es in ihr - wie in der Geschichte vom Brennenden Dornbusch - um das "wunderbare Erscheinen des Göttlichen in der Menschenwelt" geht, und d.h. auch um die sinnlich-ästhetische Qualität von Offenbarung. Grundlage der Analyse sollen wiederum nicht die einzelnen Traditionsstränge sein, sondern die Gesamtheit der Perikope, wie sie bei Abschluß des Lukas-Evangeliums dort ihren Eingang gefunden hat. Dabei ergeben sich folgende Einzel-Elemente der Gesamt-Erzählung:
1. Der Weg zwischen den Orten (V 13).
2. Der Begleiter (V 14-16).
3. Der Jünger-Bericht (V 17-24).
4. Die DUNKLE Rede (V 25-27).
5. Der Gast (V 28+29).
6. Das SEHEN (V 30+31).
7. Die HELLE Rede (V 32).
8. Zurück (V 33-35).
Der Weg zwischen den Orten
Wie in der Geschichte vom Brennenden Dornbusch steht am Anfang der Erzählung der Name eines Ortes, d.h. genauer: zwei Namen zweier Orte - Jerusalem und Emmaus. Diese Orte stehen nicht in einem beliebigen oder statischen Verhältnis zueinander, sondern in einem dynamischen. Die Bewegung geht dabei in einer Richtung: weg von Jerusalem und hin nach Emmaus. Dies ist der Weg der Jünger. Bereits dieser Weg kennzeichnet einen Inhalt. Ortsnamen sind nie Schall und Rauch, sondern Orte stehen für Erfahrungen. So wie in der Salbungsperikope in Mk 14,1-9 "Jerusalem" und "Bethanien" für gegensätzliche Erfahrungen stehen, so geht es auch in dieser Erzählung um Erfahrung. Die Jünger fliehen die Erfahrung von Jerusalem, d.h. sie fliehen vor dem Zusammenbruch ihrer Hoffnung durch den Kreuzestod Jesu. Die Bindung von Erfahrungen an Orte, dies ist der erste Hinweis, den wir dieser Perikope für eine theologische Ästhetik entnehmen können. Der Weg von Jerusalem nach Emmaus beschreibt den Vorgang der Überwindung einer alten Erfahrung und das Entstehen einer neuen.
Der Begleiter
Unterwegs gesellt sich Jesus zu den Jüngern, die versuchen, ihrer Erfahrung des Scheiterns zu entlaufen. "Aber ihre Augen waren gehindert, ihn zu erkennen." Was ist das für eine merkwürdige "Erkenntnisgeschichte", an deren Anfang eine Erkenntnis-Hinderung steht? Das, was es zu erkennen gilt, ist offensichtlich ohne dieses anfängliche Nicht-Erkennen gar nicht zu erkennen. Erkennen und Nicht-Erkennen stehen hier in einem notwendigen und ursprünglichen Zusammenhang. Erkennen geschieht in dieser Perikope gerade in dieser Spannung.
Der Jünger-Bericht
Wenn auch das Erkennen behindert ist, so ist doch eine sprachliche Kommunikation möglich. Die Jünger erzählen dem Fremden die Geschichte ihrer Jerusalem-Erfahrung, die jetzt expressis verbis als die Erfahrung von Trauer, Enttäuschung, aber auch bereits wieder aufkeimender Hoffnung formuliert wird ("Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen"). Doch auch hier obwaltet eine merkwürdige Dialektik: Der, der an diesem Geschehen als Hauptperson beteiligt war, wird von den Jüngern als uninformiert erfahren ("Bist du der einzige Fremde in Jerusalem, der nicht weiß, was dort in diesen Tagen geschehen ist?"). Der Leser der Perikope, der ja bereits weiß, daß es sich in diesem Fremden um Jesus handelt, ist von Lukas in das "Geheimnis" eingewiesen: Der einzig Wissende wird von den beiden Jüngern als einzig Nicht-Wissender gewähnt.
Die DUNKLE Rede
Der "fremde Nicht-Wissende" spricht zu den Jüngern. Er erinnert sie an das Bekannte ("was die Propheten gesagt haben") und setzt das neue, unerwartete Geschehen am Kreuz in Jerusalem in Beziehung zu diesem Bekannten. Die ganze Schrift soll dieses neue Geschehen begreiflich, verstehbar machen. Aber offensichtlich gelingt diese sprachliche Kombination von Vertrautem und Neuem nicht. Die Jünger erkennen nicht. Die Rede des Fremden bleibt ihnen dunkel; er bleibt somit selbst der in ihren Augen Nicht-Wissende.
Der Gast
Der Abend bricht herein. Die Jünger bitten den Fremden, ihr Gast zu sein. Als Fremder, und nur als Fremder, ist er Gast. Würden sie ihn als ihren Herrn erkannt haben, so wäre es nicht an ihnen, ihn einzuladen. Doch auch hier bleibt dieses Angebot der Gastfreundschaft merkwürdig doppeldeutig: "Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt." Dies ist der Form nach bereits ein Gebet an Jesus als den auferstandenen Herrn. Betz spricht an dieser Stelle von einer "feine(n) Ironie", Doch trifft der Begriff der "Ironie" m.E. hier den Sachverhalt nicht exakt, sondern es geht an dieser Stelle um die Dialektik von Nicht-Erkennen und Erkennen. Die Jünger formulieren als gegenwärtig Nicht-Erkennende bereits so als hätten sie erkannt.
Das SEHEN
Jetzt wandelt sich die Szene entscheidend. Die Rollen werden vertauscht. Der, der als Gast eingeladen ist, übernimmt die Rolle des Haus-Herrn: er nimmt das Brot, spricht das Gebet, bricht das Brot und gibt es ihnen. Da werden den Jüngern die Augen geöffnet. Jetzt sehen, jetzt erkennen sie: der Fremde ist Jesus. Es ist in der Tat "ein ganz einfältiges, staunendes Gewahren der wunderbaren Gegenwart Jesu beim Mahl". Was im Hören nicht möglich war, geschieht jetzt im Sehen. Damit haben wir es mit einer gewichtigen Umkehrung des 'Tatbestandes hinsichtlich der Dornbusch-Geschichte zu tun. War dort zu beobachten, daß es das Wort war, das die Vieldeutigkeit des Phänomens "Dornbusch" eindeutig machte, so ist es hier gerade umgekehrt: erst das Sehen des Brot-Brechens, das Erleben der Mahl-Gemeinschaft, die Wiederholung des Abendmahls, eine sinnlich-ästhetische Erfahrung also macht die zuvor gesprochenen Worte eindeutig. Deshalb ist m.E. die Emmaus-Perikope- entgegen der These von Betz - gerade kein Beleg dafür, daß die Gegenwart des Auferstandenen "begrenzt auf das 'Wortgeschehen'" ist. Hier ist die Priorität genau anders gesetzt: die sinnlich-ästhetische Erfahrung der Mahl-Gemeinschaft erschließt das Wort, macht Nicht-Erkennende zu Erkennenden.
Im Augenblick des Erkennens entschwindet der Erkannte. Das Sehen zieht sogleich wieder das Nicht-Sehen nach sich. Der Verhüllung des Blicks durch Mose, nachdem dieser gesehen hat, entspricht der Blick-Entzug, der durch das Entschwinden des erkannten Jesus bewirkt wird. Das Sehen begründet auch hier keine Verfügungsgewalt über den Gesehenen. Sehen macht eindeutig, ohne dem Sehenden die Herrschaft darüber einzuräumen. Das alttestamentliche "Ehjeh ascher ehjeh" erhält so in der Emmaus-Perikope eine aktualisierte Konkretisierung.
Die HELLE Rede
Die Jünger merken, daß ihr Sehen die zuvor nicht verstandenen Worte auf dem Weg nach Emmaus eindeutig gemacht haben. Das Jetzt-Gesehen-Haben qualifiziert auch die Worte davor; sie werden im Nachhinein sogar verwandelt. Sie werden zu Worten, die plötzlich auch als zuvor verstandene erscheinen ("Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns auf dem Weg redete und uns dabei die Schrift öffnete?"), Aus der dunklen Rede der Vor-Sehens-Zeit ist die helle Rede der Zeit des Gesehen-Habens geworden.
Zurück
Nachdem das Gesehen-Haben die dunkle Rede zur hellen Rede gemacht hat, kann auch die gesamte Bewegung der Geschichte umgekehrt werden. Aus dem Weg von Jerusalem nach Emmaus wird der Weg zurück nach Jerusalem. Dieses Jerusalem jedoch ist nicht mehr dasselbe. Auch der Ort ist durch das Gesehen-Haben ein anderer geworden. Die Jünger flohen vor dem Ort des Kreuzes und des Todes, und sie kehren zurück zum gleich-anderen Ort als dem Ort der Auferstehung. Dazwischen aber war das SEHEN.
Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987, S. 99-102 (dort auch die hier nicht wiedergegebenen Anmerkungen und Belege).