verstehen
Jesus hat den Emmaus-Jüngern nicht nur zugehört; er hat sie auch verstanden. Und die Jünger haben sich verstanden gefühlt - sonst hätten sie ihn nicht später zum Bleiben genötigt. Von Jesus heißt es einmal im Johannesevangelium: "Er mußte niemand etwas fragen, denn er wußte, was in einem Menschen vorging." Unter den Heiligen der orthodoxen Kirche soll es einige gegeben haben, die die Gabe der "Herzensschau" hatten: Sie verstanden einen anderen Menschen bis ins Innerste ohne Worte. Solch umfassendes Verstehen ist selten und und auf eine besondere Gabe der Intuition zurückzuführen. Die eben angeführten außergewöhnlichen Beispiele für diese Gabe zeigen: Verstehen ist noch ein Schritt mehr als Zuhören, obwohl beides ineinander übergeht und Verstehen ohne Zuhören unmöglich ist.
Schon präzises Zuhören und genaues Erfassen dessen, was mein Gegenüber sagt, ist schwierig. Wirkliches Verstehen ist noch schwieriger, weil das bedeutet, auch das zu hören, was mein Gegenüber nicht sagt, die Worte zwischen den Worten wahrzunehmen. Bei diesem Versuch ist die Gefahr groß, eigenes Denken, Wollen und Fühlen in die oder den anderen hineinzudeuten und mein Gegenüber falsch einzuschätzen. Um eine "Verstehende" oder ein "Verstehender" zu werden ist deshalb so etwas wie ein Läuterungsvorgang nötig, bei dem ich nach und nach unterscheiden lerne zwischen eigenen Gefühlen und Vor-Urteilen und dem, was von meinem Gegenüber herkommt.
Verstehen ist ein umfassender Vorgang, der Gesagtes und Nicht-Sagbares umfaßt. Es gibt in der Regel nur wenige Augenblicke im Leben, wo wir uns wirklich verstanden fühlen oder wo wir andere wirklich verstehen. Verstehen ist nicht "machbar" und setzt dennoch etwas voraus, nämlich Offenheit und Sensibilität für sich und andere.
Weitere Anregungen
- Emil A. Herzig: Das Verbalisieren von Gefühlen
- Uwe Koch/Christoph Schmeling: Einfühlende Antworten