Wohin gehen die Toten?
von Bärbel von Wartenberg-Potter
Was wissen wir wirklich, was mit den Toten geschieht? Ich glaube, dass ich es Dir als einem Kind am ehesten erklären kann, was ich damals über den Tod herausgefunden habe, denn Kinder - so steht es in der Bibel - verstehen die Sprache von Gott besser als die Erwachsenen. Eines ist klar und sehr schmerzlich: Man kann mit den Toten nicht mehr sprechen wie früher, nicht mehr mit ihnen lachen oder essen. Nicht mehr spazieren gehen und schlafen. Sie können einen nicht mehr erfreuen oder beschimpfen, einem nicht mehr Geschichten vorlesen, nicht mehr Hausaufgaben mit einem machen oder spielen. Sie nehmen keine Geschenke mehr noch geben sie welche. Man kann nie mehr Auto fahren, telefonieren oder Ferien machen mit ihnen. Alles das - und vieles mehr - geht nicht mehr.
Sie sind weggegangen in ein anderes, unsichtbares Land - dorthin, wo schon viele, viele andere sind: Dein Großvater, Micha und Frieder und viele andere Menschen warten dort schon auf Deinen Papa, auch Tiere, auch Pflanzen. Sie alle, wir alle, gehen einmal zurück zur Mutter Erde, die uns aufnimmt in ihren kühlen braunen Schoß, die ihre erdigen Arme um uns schlingt und uns eine neue Heimat gibt. Die Toten gehen zurück dahin, woher alles Leben kommt, zu Gott, der in der Tiefe der Erde, im Himmel über uns, in den Herzen der Menschen, überall ist.
Gott hat einen großen weichen Schoß, in der Bibel dachten sie an Abrahams Schoß, aber vielleicht denkst Du eher an den Schoß Deiner Mutter. Dort dürfen alle sitzen, die einmal gelebt haben - und Gott lässt sich von ihnen ihre Erdengeschichten erzählen: ihren Kummer und ihre Freuden, worüber sie gelacht und geweint haben, von den Menschen, die mit ihnen gelebt haben, von Dir und mir. Dann lacht Gott und freut sich, oder er weint, ist zornig und empört, je nachdem. Wie schön zu denken, dass sich Dein Papa und Micha begegnen und an die Zeit denken, als wir alle zusammen noch im Krankenhaus waren. Wo wir oft auch fröhlich und glücklich gewesen sind, wenn es ein wenig gut war für uns alle.
Wir wissen wenig Genaues über die Gestorbenen und müssen uns mit solchen Bildern helfen, die aber wahr sind. Eines aber wissen wir ganz genau - und ich habe es selbst oft auf ihren toten Gesichtern gesehen: Die Toten sind in einen großen Frieden gegangen. Alles, was sie gequält und unglücklich gemacht hat, die Sorgen, der Zorn, der Streit, alles das ist von ihnen weggenommen, und sie sind zur Ruhe gekommen. Tote muss man lange anschauen, dann entdeckt man dies. Kurze Blicke erschrecken uns nur.
Wir können nicht mehr mit ihnen leben. Aber wir können sie weiter lieb haben, wir können an sie denken. Sie sind noch immer bei uns und beschützen uns. Sie helfen uns in einer unsichtbaren Weise. Wir können sie rufen, indem wir mit anderen über sie sprechen. Wir können uns an all die schönen, auch die schweren Sachen erinnern und stille Gespräche mit ihnen führen. Wir können uns ausdenken, was sie sagen oder tun würden. Wir können die Bilder anschauen, die Sachen anfassen, die ihnen gehörten. Das beste aber ist, dass wir selber sozusagen ein Stück ihres Lebens weiterleben können, sie wohnen in unseren Herzen. Die Toten haben eine neue Heimat in uns, sie sind nicht verloren.
Aus: Bärbel von Wartenberg-Potter, Wir werden unsere Harfen nicht an die Weiden hängen. Engagement und Spiritualität, Stuttgart: Kreuz 1986 (4. Aufl. 1990), S. 49-53.