LN-Interview 2001
Ich freue mich darüber, dass Sie die Kirche so wahrnehmen: als ein Fels in der Brandung sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbrüche. Damit geben Sie ihr den Ehrentitel, den Jesus einmal einem seiner wichtigsten Jünger gegeben hat: Simon, genannt "Petrus", der Fels. Wir wollen das gerne sein: verlässlicher Urgrund des Lebens in unserer Berufung auf Gott, den Schöpfer, Retter und Erhalter aller Dinge.
Aus Gottes schöpferischem Handeln lernen wir: Wir können unser Leben nur erhalten und bewahren, wenn wir bereit sind zur Veränderung. Wer starr und unbeweglich wird, hört auf lebendig und kreativ zu sein. Also müssen wir uns auch verändern, indem wir das Erhaltenswerte und besonders Wichtige in die Zukunft tragen. Luther hat so von der Kirche gesprochen: sie sei "semper reformanda", immer wieder zu verwandeln und zu erneuern. Er war aber auch fest davon überzeugt, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können. Die Kirche kann nicht untergehen, denn sie hat Gottes schöpferisches, Leben schaffendes Wort für sich.
Es stimmt: Die Mitgliedschaft aus Tradition nimmt ab, wir müssen wieder mehr Menschen dazu einladen, bewusst und mit Gründen ja zu sagen zum Glauben und auch zum irdischen Gefäß der Kirche, zur Solidargemeinschaft der gemeinsam Hoffenden und Glaubenden. Aber immer noch gehört die Mehrheit der Menschen bei uns im Kirchenkreis und auch auf das ganze Land gesehen einer der beiden großen Kirchen und den sehr lebendigen Freikirchen an. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre haben wir etwa 4,5 % der Mitglieder verloren und fast 1 % durch Besuche und Gespräche wiedergewinnen können. Unsere Verluste liegen also meist unter 1 % in jedem Jahr, was gewissen Schwankungen unterworfen ist, wenn wieder einmal an der Steuerschraube gedreht wird. Aus dem Staat kann man nicht austreten, aus der Kirche ja, und so verlieren wir immer wieder aus finanziellen Gründen Kirchenmitglieder, die aber womöglich übersehen, dass die Kirchensteuer eine Sonderausgabe ist, die steuermindernd geltend gemacht werden kann. Freilich verlassen uns auch immer wieder Menschen aus anderen Gründen, weil sie mit bestimmten Entscheidungen oder öffentlichen Äußerungen der Kirche nicht einverstanden sind.
Übrigens: Die Kirche leidet nicht unter der Steuerreform. Die Kirche begrüßt die Reform der Lohn- und Einkommensteuer und erwartet mit den politisch Verantwortlichen einen entsprechenden Konjunktur- und Beschäftigungseffekt. Wenn der wie erwartet eintritt, werden die Verluste nicht so groß wie befürchtet sein. Die Kirche sieht es auch als Chance an, sich angesichts der sinkenden Einnahmen auf das Wesentliche zu konzentrieren, notwendige Strukturanpassungsmaßnahmen beherzt anzupacken und neue Einnahmequellen zu erschließen. Es ist immer noch erstaunlich, wie viel Geld uns insgesamt aus Steuermitteln anvertraut wird. Im Kirchenkreis sind es Jahr für Jahr ca. 14 Millionen. Damit wollen wir sorgfältig und sparsam umgehen und die richtigen Prioritäten setzen. Wir haben also immer noch genug Einnahmen für unsere Arbeit, auch wenn wir hier und da noch ein paar Wünsche haben, die wir nun nicht gleich erfüllt bekommen. Das Wichtigste: Wir sind immer noch so gut gestellt, dass wir auch die Herausforderung spüren, zu teilen und abzugeben an diejenigen Kirchen und Christen in der Welt, die mit sehr viel weniger Geld auskommen müssen.
Das ehrenamtliche Engagement in der Kirche ist nach wie vor sehr groß. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Menschen unbedingt Geld sehen wollen, wenn sie sich für die Belange von Gemeinde und Kirche einsetzen. Was sie dafür bekommen, ist manchmal gar nicht mit Geld aufzuwiegen: eine interessante Aufgabe, eine lebendige Gemeinschaft, eine gute Förderung und Begleitung ihrer Gaben und Fähigkeiten, einen "Sinngewinn" im Leben. Schon Albert Schweitzer hat zur Erhaltung von Leben und Gesundheit das Ehrenamt empfohlen. Ich möchte das unterstreichen: zu einem sinnvollen und erfüllten Leben gehört neben Arbeit und Freizeit auch "Sozialzeit", die Bereitschaft, in die Gemeinschaft zu investieren und dabei viel Gutes zurückzuempfangen. Insofern ist ehrenamtliche Arbeit nie umsonst, jedenfalls nicht vergeblich, sondern menschlich bereichernd. Freilich: Wir müssen in unsere kostbare Ressource "Ehrenamtlichkeit" auch investieren: Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Lob, Anerkennung, Mitverantwortung. Das "Jahr der Ehrenamtlichen" will uns an dieser Stelle zu bewusstem Handeln anleiten.
Die Kirche hat Nachwuchsprobleme. Wir können das vor allem an den dramatisch sinkenden Zahlen der Theologiestudierenden ablesen. Es muss uns wieder gelingen, gerade junge Menschen für das Evangelium von Jesus Christus zu interessieren und ihnen ein Mitleben und Mitgestalten in den Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen zu ermöglichen. Bei der "Spaß-Kultur" können wir nicht immer mithalten, auch wenn kirchliche Begegnungsstätten, Freizeiten, Aktionen und Sonderprogramme für Kinder und Jugendliche immer wieder gefragt sind. Wir haben eine Alternative zu Spaß und Event zu bieten im langsameren Rhythmus guter Beziehungen und guter Gemeinschaft untereinander, in der Ausrichtung auf lohnende Werte und Ziele, die sich gerade auch in schwierigen Zeiten bewähren. Vordergründig haben wir scheinbar wenig Erfolg, tiefgründig und nachhaltig leisten wir einen wichtigen Beitrag für Wertorientierung und Konfliktlösung in unserer Gesellschaft - auch und gerade bei jungen Leuten. Sie sträuben und wehren sich manchmal gegen den Pastor oder die Pastorin, aber später erinnern sie sich an gute Erfahrungen und entwickeln auch so etwas wie Respekt und Dankbarkeit für die Liebe und die Geduld, die da in sie investiert wurde. Lieblos und ungeduldig dürfen wir nicht werden. Wir müssen gerade den jungen Leuten mit viel Verständnis begegnen.
Ja, wie modern muss Kirche heute sein? Sie sollte sich mitentwickeln in der Welt, nicht immer an der Speerspitze jedes Fortschritts, aber auch nicht als Schlusslicht einer notwendigen Entwicklung. Wir benutzen moderne Kommunikationsmittel zur Arbeitserleichterung, wir präsentieren uns auch in den modernen Medien. Wir bereiten gerade einen Internet-Auftritt unseres Kirchenkreises vor. Wir möchten zeigen: Schaut her, wir sind gar nicht so verstaubt, wir sind moderne Menschen, junge und alte, kräftige und manchmal auch leidende und schwer tragende, wir versuchen, unsere Leben aus einer befreienden Mitte heraus zu gestalten und daraus Halt und Orientierung für unser Leben zu gewinnen. Es macht Freude, bei der Kirche mitzuarbeiten, ja es tröstet und hilft auch, wenn es einmal schwer wird im Leben.
Die soziale, d.h. mitgestaltende und befriedende Rolle der kirchlicher Gemeindearbeit kann man vor allem dort erkennen, wo sie systematisch behindert und zerstört worden ist. Gesellschaften, die sich mit fehlender kirchlicher Gemeindearbeit herumzuschlagen hatten oder haben, tragen sehr schwer an diesem gesellschaftlichen Defizit. Es ist wie mit dem Salz und mit dem Sauerteig: Erst wenn es fehlt, merken wir, wie wenig das Brot schmeckt, wie schnell es verdirbt oder ungenießbar wird. Die Kirchen tragen nicht diese Gesellschaft, das tun die Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Lebenshaltungen und -einstellungen, ja auch mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen. Aber eine gut funktionierende Kirchengemeinde ist ein Segen für jeden Ort, wie ich mich bei meinen Visitationen im Lauenburger Land überzeugen konnte, ein Beitrag zur Wohlfahrt und zum Frieden in einem Land.
Ja, es gibt auch Defizite: Unaufmerksamkeit, Lieblosigkeit, Gedankenlosigkeit; fehlende Konzentration auf das Wesentliche, falscher Einsatz der Mittel und Kräfte; leider hier und da auch Streit, Missverständnisse, ein ungeschicktes Herangehen an schwierige Probleme. "Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhms, den wir bei Gott haben sollen", sagt der Apostel Paulus. Aber wir haben einen großen Schatz, wenn auch nur in irdenen Gefäßen. Wir müssen geduldig miteinander sein, uns gegenseitig zurechthelfen, auch entdecken, dass unsere Gaben größer sind als unsere Fehler. In anderen Bereichen ist man längst abgekommen von der "Defizitorientierung". Beklagen wir also nicht, was wir nicht oder noch nicht können, sondern schauen wir auf das, was wir können und was wir eventuell besser machen können. Aber auch da lauert nach unserer langen Erfahrung als Kirche eine schlimme Gefahr: "Es ist besser, wenn ..." kann auch zum Kaiphas-Rat werden und zu Überanstrengung und falschem Opfer führen. Konzentrieren wir uns also auf das Gute, von dem der Prophet sagt, dass wir alle schon wissen, was damit gemeint: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein.
Das Selbstverständnis der Gemeindepastorinnen und Gemeindepastoren ist auch einem stetigen Wandel unterworfen. Sie nehmen teil an den Entwicklungen der Gesellschaft und versuchen, das notwendig Wichtige der christlichen Tradition in die jeweilige Situation hinein zu sprechen und hinein zu vermitteln. Es geht heute nur noch partnerschaftlich unter Einbeziehung von hauptamtlich und ehrenamtlich Mitarbeitenden. Das neue Rollenverständnis könnte man vielleicht so formulieren: Die Pastorinnen und Pastoren sollten Ermöglicherinnen und Ermöglicher gelingender Gemeindestrukturen sein bei gleichzeitiger Konzentration auf ihre Primäraufgaben wie Verkündigung, Seelsorge, Unterricht. Sie sollten nicht von oben herab z.B. Amtshandlungen gewähren, sondern freundlich zu Dienstleistungen an den Menschen bereit sein - verständnisvoll begleitend und aus dem Schatz des christlichen Glaubens und der christlichen Tradition sicher gestaltend.
Öffentliche Äußerungen der Kirche zu verschiedenen Themen sind wichtig, gefragt und häufig umstritten. Zur BSE-Krise hat sich der Lübecker Bischof Kohlwage sehr pointiert geäußert. Manche, auch ich, haben die Worte "Verbrechen" und "Gotteslästerung" für überzogen gehalten, weil sie aufgehoben gehören für ganz andere Tatbestände der Unmenschlichkeit. Wir sind durch unseren Lebensstil in tiefe ethische Konflikte verstrickt, die wir beim Namen nennen und aus denen wir vernünftige Auswege finden müssen. Die Kirche wird gebraucht mit ihrem tröstenden und auch mit ihrem zurechtweisenden Wort. Dass die Kirche je geschwiegen hätte zu Kriegen und bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen, ist mir nicht erinnerlich. Sie hat manchmal nicht schnell genug und nicht mutig genug sich geäußert, aber sie hat z.B. in Sachen Krieg immer zweierlei gesagt: 1. dass er nach Gottes Willen nicht sein soll und 2. dass, wenn er geführt werden muss zur Verteidigung eines unumstritten wichtigen Gutes, er unter dem Titel des Rechtes zu führen ist, statt in Willkür, Verbrechen und maßloser Menschenverachtung und Gotteslästerung zu enden.
Das pastorale "Wort zum Sonntag" rüttelt nur manchmal auf, das ist wahr. Es tröstet auch, es macht nachdenklich, es weist hin oder es lädt ein. Es ist eben pastoral, was auf deutsch "behütend" heißt. Es hat teil an der Vielfalt der Gaben und Fähigkeiten unter den Pastorinnen und Pastoren unseres Kirchenkreises. Es hat auch etwas von einem verlässlichen Ritual dadurch, dass es regelmäßig erscheint. Es ist, wie ich finde, immer "interessant", was ja heißt: es ist dabei - bei den Sorgen und Nöten der Menschen, bei ihren Fragen und Ängsten. Nicht immer mag allen die Antwort gefallen, der Hinweis auf Jesus Christus, den Grund unseres Glaubens. Vielleicht klingt die Antwort auch manchmal kindlich-naiv, einfach und fromm. Schadet das? Heißt sich einmischen immer auf die Pauke hauen? Ich schätze auch eher die leisen, differenzierten Töne. Ich kann mich auch lautstark zu Worte melden. Aber dann muss es wirklich wichtig sein und um ganz existentielle Dinge gehen. Ja, die Kirche sollte sich einmischen - aber eben "sich einmischen": d.h. doch Salz der Erde, Licht der Welt sein, Sauerteig, ohne den das Brot allzu fad schmeckt. Sich einmischen heißt sich geben, etwas wagen und zumuten - dann aber auch akzeptieren, dass man untergemengt, verteilt, verdaut und verarbeitet wird. Wer sich einmischt, bleibt nicht bei sich allein, sondern wird eingebaut in die verträgliche Mischung.
Die größte Herausforderung in der Zukunft sehe ich darin, ob es gelingt, den nachfolgenden Generationen das Evangelium als einen Schatz in irdenen Gefäßen so anzuvertrauen, dass sie ihn als ihr eigentliches Erbe empfinden, das es zu hüten und zu bewahren gilt. Wie es in einem Kirchenlied heißt: "Herr, dein Wort die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir, denn ich zieh es aller Habe und dem größten Reichtum für. Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir ist's nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun." Wenn uns das gelingt, das Wort der Bibel den Menschen lieb und teuer zu machen, und sie entdecken können, dass es um ihr Leben und ihre Wohlfahrt in diesen Worten geht, dann können wir auch alle anderen Herausforderungen anpacken und erfolgreich bestehen: mit weniger Geld auskommen z.B., neuen Theologennachwuchs gewinnen, Kirchenstrukturen verbessern, teilen lernen mit den wirklich Bedürftigen in dieser Welt, fröhlich und gerne Christen sein.
Propst Peter Godzik
Antworten auf Fragen des LN-Redakteurs Matthias Wiemer am 2. März 2001