Wahre Ewigkeit
von Rabindranath Tagore
Die Welt ist gleich einem Strom von Musik, ein beständiges Fließen von Kräften und Formen, und daher macht sie, von außen gesehen, den Eindruck der Vergänglichkeit. In ihrem beständigen Vergehen ist sie ein Bild des Todes. Aber nur die einzelnen Töne vergehen, die Melodie klingt ewig fort. Wenn die einzelnen Töne Anspruch auf ewige Dauer machen dürften, so müßten sie ihre wahre Ewigkeit verlieren, die sie in der Melodie finden. Die Wüste ist unwandelbar, weil sie ohne Leben ist. Im fruchtbaren Boden offenbart das Leben seine Unsterblichkeit, indem es immer wieder durch die Pforte des Todes schreitet.
Es ist uns aufgegeben, unsre Seele, das Eine in uns, das Ewige, zu offenbaren. Dies kann nur geschehen, indem unsre Seele durch die Mannigfaltigkeit des Vergänglichen hindurchgeht, indem sie beständig die Form opfert, um die, Ewigkeit des Geistes zu behaupten. Unser Ich ist das Gefäß, in dem wir sammeln und bewahren, und das uns die Möglichkeit gibt, wieder hinzugeben. Wenn es uns nur um unser Ich zu tun ist, dann halten wir unsern Vorrat sorgsam fest und werden elendiglich zuschanden. Wenn es uns um die Seele zu tun ist, dann erkennen wir gerade in der Vergänglichkeit des Lebens seinen ewigen Sinn und fühlen, daß kein Verlust uns ärmer machen kann.
Aus: Rabindranath Tagore, Flüstern der Seele, Freiburg: Hyperion o.J., S. 135-136.