Weihnachten - ein Stück Heimat in der Heimatlosigkeit
von Peter Godzik
Wie kommt es, daß zu Weihnachten die Kirchen immer so voll sind? Ist es bloße Gewohnheit, die wir gedankenlos hinter uns bringen wie so vieles in diesen hektischen und aufgeregten Tagen? Oder steckt mehr dahinter?
Ich glaube, daß Weihnachten an eine tiefe Sehnsucht in uns allen rührt - an die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit. In dem neuen Weihnachtsbuch von Jörg Zink lese ich:
"Unsere Welt ist uns zu groß geworden, weil sie stumm geworden ist. Randlos dehnt sich der Kosmos über den letzten Fixstern hinaus in eine gähnende, leere, nachtschwarze Welttiefe. Die Gemeinschaften unter den Menschen verlieren ihre Kraft. Familien, Dörfer, Städte geben keinen Schutz mehr. Fast schon ist es gleichgültig, wohin es uns verschlägt, wohin wir ziehen, wo wir bleiben. Als Gefangene einer Welt, die keine Heimat mehr ist, leben wir mit unseren Ängsten. Selten findet uns ein Wort. Selten sprechen wir aus, was in uns ist. Frühere Generationen lebten jahrhundertelang auf einem und demselben Fundament, in einer und derselben Stadt, auf einem und demselben Acker. Wir, ihre beweglichen Nachfahren, wechseln die Häuser wie die Kleider, und die tiefe Ungewißheit, die uns ergriffen hat, rührt von der Erfahrung her, daß kein Haus uns verläßlich aufnimmt und niemand das Wort spricht, das uns schützt und dem wir antworten könnten ... Und so werden wir Heimatlosen einmal im Jahr gleichsam am Ufer des Christfestes angetrieben. Wir hoffen, Fuß fassen zu können, und wünschen uns ein Ende der Rastlosigkeit ...
Es braucht keine Weltflucht zu sein, wenn viele an der Weihnachtszeit leiden, weil diese Tage sie an ihre Kindheit erinnern, an den Duft einer längst verlassenen Weihnachtsstube, an verklungene Lieder und Geschichten, an Puppenstube und Eisenbahn unter einem Baum und an die Spielfiguren einer Krippe. Man kann seine Heimat dadurch endgültig verlieren, daß man sich seines Heimwehs schämt. ,Selig sind, die Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen', sagt Jung Stilling, und wer den Meister von Nazareth kennt, darf denen, die unter Heimweh leiden, sagen: In des Vaters Hause sind viele Wohnungen, und wir, die Menschen, sind schon in dieser Welt im Grunde längst zu Hause."
Zu Hause sein in der Unbehaustheit dieser Welt ist das nicht ein Widerspruch? Jörg Zink antwortet darauf: "Wahrscheinlich wird der Mensch, der doch immer nur in Teilbereichen dieser Welt zu Hause ist, erst dann erfahren, daß er in der ganzen Höhe und Tiefe und Weite dieser Welt heimisch ist, wenn er dem die Ehre gibt, der sie umgreift und durchdringt ... Denn die Welt wird nicht dadurch zur Heimat, daß man sich in die Mauern eines Hauses oder in das Innere seiner Seele zurückzieht, sondern dadurch, daß in ihrer Unendlichkeit eine Stimme hörbar wird, die unser Vertrauen wert ist."
Und diese Stimme sagt uns: "Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids." Zu Weihnachten erscheint uns ein Licht, das auch noch in der größten Dunkelheit leuchtet, eine Liebe, die nicht zuschanden wird - auch nicht in der tiefsten Verlassenheit am Kreuz.
Einmal im Jahr zu Weihnachten scheinen wir zu begreifen, was da an Licht in unsere Finsternis gekommen ist, an Heimat in unsere Heimatlosigkeit. Wir werden die Kirche wieder verlassen - vielleicht für ein ganzes Jahr. Aber wir werden den Schein nicht vergessen, nach dem wir uns sehnen.
In: Kirche in Büdelsdorf. Information - Besinnung - Meinungsbildung, Ausgabe Dezember 1976.