Kunstwerk wird Künstler - 20 Jahre Künstlerhaus in Lauenburg/Elbe
von Peter Godzik
Predigt am 08.10.2006 (17. Sonntag nach Trinitatis) über Jesaja 49,1-6
War der Prophet Jesaja (wie wir heute wissen: der zweite Jesaja, von dem die eben vorgelesenen Verse stammen) ein Künstler? Ja, er war einer, wie wir noch hören und hoffentlich auch verstehen werden. Aber vor allem und zuerst war er ein besonderes Kunstwerk des Schöpfergottes, den wir in der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist als den einen und wahren Gott anbeten und verehren.
Er, der Schöpfergott, Erschaffer, Retter und Bewahrer unseres Lebens, hat auch den Propheten Jesaja, den zweiten Jesaja, "gemacht" - "künstlich und fein bereitet", wie wir das im Loblied besingen, also besonders kunstvoll gestaltet. Wenn wir genau hinschauen tut er das mit allen Menschen, macht sie zu Kunstwerken seiner Menschenkunst und belebt sie mit seinem Odem so, dass sie womöglich selber Künstler werden können. Im Predigttext heißt es zu diesem "Kunstschaffen" Gottes: "Der Herr hat mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet, er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt."
Kann man schöpferisches Tun, künstlerisches Schaffen besser beschreiben als mit diesen Worten: bereitet, gemacht, bedeckt, gemacht, verwahrt? Genau so spielen sich die schöpferisches Prozesse in unserem künstlerischen Schaffen ab: Wir bereiten, wir machen, wir bedecken, wir machen erneut, wir verwahren - und stellen dar und stellen aus.
Das also halten wir als erste Erkenntnis aus unserem Predigttext fest: Ehe wir handeln und schaffen können, hat Gott schon längst an uns gehandelt und geschaffen. Wir sind Geschöpfe eines Schöpfers, selber Kunstwerke, ehe wir zum Künstler, zur Künstlerin berufen werden.
Jesaja, der zweite Jesaja, war ein besonderes Kunstwerk, ein wichtiges Lebenswerk Gottes: von Mutterleib an erwählt, gemacht, bereitet, bedeckt und verwahrt für eine große kommende Aufgabe.
Aber wie entdeckt ein Kunstwerk, dass es ein Künstler, eine Künstlerin ist? Wieder erfahren wir aus dem Predigttext die entscheidenden Stichworte. Es geht nur durch Berufung: Gott gedenkt seines Kunst- und Lebenswerkes und beruft und spricht. Er fördert und fordert. Und so macht das berufende Wort aus einem Kunstwerk einen Künstler. Verbum accedit ad elementum et fit sacramentum. Das Wort tritt zum Element, zum Material, und macht daraus ein Sakrament, ein heiliges und heilendes Geschehen unter dem Segen Gottes. Kunst ist Weitergabe des schöpferischen Impulses, der in uns steckt, Äußerung, Entäußerung eines Innen. Wir werden durchlässig für fremdes Handeln an uns und geben doch unser Eigenes dazu: Das ist Kunst. Nicht einfach nur die Abbildung der Schöpfung wie in einer Fotographie, sondern die Sichtbarmachung eines Berufungsimpulses, der durch allerlei Widerstände und Zweifel hindurch von innen nach außen drängt und "schafft, wie's ihm gefällt".
Hören wir genau auf den Text und entdecken dabei die Grundmotive schöpferischen, künstlerischen Handelns beim Menschen.
Gott gedenkt meines Namens. Er erinnert sich, weshalb, wozu er mich gemacht hat. Kunst ist immer prospektiv, nach vorn gerichtet. Und deshalb ist es so wichtig, dass dieses Stichwort in unser Fest eingefügt wurde. Ja, wir erinnern uns dankbar an 20 Jahre Künstlerhaus in Lauenburg an der Elbe, wir lassen die Namen und die wunderbaren Kunstwerke noch einmal an uns vorüberziehen. Aber sie waren nicht gemacht und gedacht als Rückblicke, sondern als Entwürfe, vor sich Geworfenes und sichtbar Gemachtes, was noch kommen soll: Verständnis, Begreifen, Beachten. Auch wenn Kunstwerke von bereits Vergangenem erzählen, wollen sie doch vorgreifen und Zusammenhänge deutlich machen, betonen, unterstreichen, herausstellen - damit wir aufmerksamer, liebevoller, bewusster leben. Selbst in der Provokation - und es wird eben nicht revoziert, zurückgenommen, sondern provoziert, hervorgerufen - geht es um das bessere, das zukünftige Leben.
Wie beim Propheten Jesaja, dem zweiten Jesaja. Auch aus ihm wurde ein Künstler. Gott gedachte seiner, den er gemacht hatte im Mutterleib, und erinnerte sich, wozu er diesen Propheten erschaffen hatte: als ein scharfes Schwert und einen spitzen Pfeil. Prophet und Provokateur, Künstler eben, durch den etwas geschehen und geschaffen werden sollte.
Hören wir wieder genau hin: "Er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will." Was für eine wunderbare Berufung in eine ehrenvolle Aufgabe. Wir sollen etwas sein zum Lobe seiner Herrlichkeit. Genauer noch: Wir sind es. Gott verherrlicht sich durch uns. Und die eigentliche Aufgabe kommt erst noch. Vor aller Aufgabe, vor allem Werk, sind wir etwas: nämlich wertgeachtet bei Gott, und Gott ist unsere Stärke. Wer hält das aus, so geehrt und geachtet, so hoch erhoben zu werden?
Uns befallen Zweifel, den Propheten befallen Zweifel, alle Künstlerinnen und Künstler befallen Zweifel - sonst wären sie keine. Wie kann man das denn auch aushalten, von Gott berufen zu werden zur Äußerung, zur Entäußerung des Inneren nach außen. Wie soll man oder frau das nur aushalten, das eigene, von Gott geschenkte Innere nach außen zu bringen vor die Augen und Ohren der Menschen?
Jesaja, dem zweiten Jesaja, brachte der Selbstzweifel, dieses lebensnotwendige Ferment allen künstlerischen, prospektiven Schaffens, schwere Anfechtungen: "Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist." Haben Sie, liebe Gemeinde, schon jemals genauer und präziser beschrieben gehört, was einen Propheten und Künstler ausmacht, als diese Worte? Vergeblich, umsonst, unnütz. So denken alle - wenigstens manchmal und zwischendurch. Und wenn es wie eine große Woge über sie kommt, dieses starke Gefühl, dann werden auch schon mal Kunstwerke zerstört und verbrannt von eigener Hand. Und das ist der einzige Grund, den ich gelten lassen würde, ein Kunstwerk zu zerstören: Wenn den Künstler, die Künstlerin der Selbstzweifel packt und sie es besser machen will und es doch nicht kann. Alles andere, diese selbstgerechte Besserwisserei der Kunstzerstörer, ist Barbarei, wie wir sie am schlimmsten unter den Nazis erlebt haben. Die Begegnung zwischen Christus und Thomas, das Wiedersehen, geschaffen von Ernst Barlach, als Musterbeispiel "entarteter Kunst" zu betrachten, ist unentschuldbar und ein unverzeihlicher Akt menschlicher Dummheit.
Künstler, Propheten wissen das, dass sie verkannt, verfemt, verlacht und verhöhnt werden können vom ahnungslosen und manchmal auch gewissenlosen Publikum. Deshalb brauchen sie solche biblischen Sätze als Schutzschild und Überlebenshilfe: "... wiewohl mein Recht bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist."
Aber aus der Tiefe der Selbstzweifel und der törichten Verachtung der Leute erhebt sich ein künstlerisch begabter Mensch und dringt durch zu Klarheit und Gewissheit der eigenen Berufung und des eigenen Auftrags. Wie es beim Propheten Jesaja, dem zweiten Jesaja, heißt: "Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, - darum bin ich vor dem HERRN wert geachtet, und mein Gott ist meine Stärke -, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde."
Mit Adlerflügeln schwingt sich der prophetische, prospektive, künstlerische Mensch auf und überschreitet vorgegebene Grenzen. Aus dem "vergeblich, umsonst und unnütz" wird ein selbstgewisses "zurückgebracht, gesammelt, wertgeachtet", das sich nicht zufrieden gibt mit dem einmal Erreichten. "Es ist zu wenig", es geht noch mehr, noch viel mehr: "Licht der Heiden", "Heil bis an die Enden der Erde". Ist das nun Größenwahn, wenn einer sich so in die Lüfte erhebt? Ich glaube nicht. Denn Künstlerinnen und Künstler sind Menschen, die es zulassen müssen und dürfen, dass der schöpferische Geist Gottes gewaltig durch sie hindurch weht. Das ist manchmal gar nicht zum Aushalten. Aber sich aufs Hühnergescharr zu beschränken gehört nicht zu den eigentlichen Künstleraufgaben. Etwas Adler, ja der ganze Adler muss es schon sein: hoch erhoben in den Lüften, stolz und selbstbewusst - und doch bescheiden und einfach, weil jeder weiß, woher die Luft unter den Schwingen kommt. Adler machen weder Lüfte noch Winde, aber sie fliegen mit ihnen. Das ist prophetische, prospektive und künstlerische Existenz. Gott sei Dank. Amen.