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Sigrid Schenkenberg, Verdunkelte Seele, 2006

wahrgenommen

Ich sehe aber auf den Elenden
und auf den, der zerbrochenen Geistes ist ...
Jesaja 66,2

Und Hagar nannte den Namen des HERRN,
der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.
1. Mose 16,13

Wahrgenommen zu werden mit dem, was ich bin, worunter ich leide, wofür ich mich einsetze, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein gutes und befriedigendes Leben. Es ist ziemlich schrecklich, nicht mehr gesehen, nicht mehr wahrgenommen zu werden von anderen. Trauernde befinden sich sehr häufig in dieser Situation. Das mag auch daran liegen, dass sie sich zurückziehen und niemanden mehr an sich heranlassen. Dabei wünschen sie sich oft nichts sehnlicher als eben das: wahrgenommen zu werden.

In der biblischen Tradition ist das Wahrgenommenwerden durch Gott eine der tief­sten Erfahrungen von erschüttertem, angefochtenem und wieder vertrauendem Glauben. Gott ist einer, der sieht, der annimmt, der zurechtbringt und versteht. "Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen", so singt Maria im Magnifikat (Lukas 1,48). Und Hagar nennt den Brunnen, der ihr (und später auch Ismael) das Leben rettet: "Brunnen des Lebendigen, der mich sieht" (1. Mose 16,14).

Das Wahrgenommen werden in Schmerz und Trauer ist eine der wichtigsten Voraussetzungen zum Heilwerden. Dabei ist wichtig, dass diejenigen, von denen ich wahrgenommen werden möchte, auch tatsächlich hinsehen und genügend differenziert verstehen, worum es z.B. im Trauerprozess geht.

In diesem Schritt setzten wir uns mit den Trauerphasen auseinander, die klassisch geworden sind und die heute mehr und mehr von anderen Sichtweisen, denen der Zyklen, Spiralen und Gezeiten, abgelöst werden.

Es ist trotzdem gut, wenn die klassischen Texte zunächst einmal gekannt und verstanden werden, um das genaue Hinsehen und Hinhören einzuüben. Wer seine Augen und Ohren offenhält und nach einiger Zeit im Sehen und Hören geschult ist, der wird sich auch von Konzepten und Strukturen lösen können, die den Blick auf die Realität eher verstellen als ermöglichen. Aber ungeübt und unvorbereitet sollte niemand Trauernden begegnen. Die Gefahr ist zu groß, dass eigene ungelöste Trauerprobleme den Blick für das Gegenüber trüben.