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Die gute Zeit (1929)

Aufführungsgeschichte:

uraufgeführt: 1929 Gera (Martin Gien)

inszeniert:

1992 Berlin (Bernd Mottl), 1993 Parchim (Thomas Bischoff),

2004 Hamburg (Michael Aichhorn)

Inhalt:

In zehn Akten des Dramas Die gute Zeit zeigt Barlach zwei gesellschaftliche Gruppen in ihrem Dasein, ihrem Verhalten, ihrer Sprache auf, wie sie ferner voneinander nicht sein können.

Die Welt der "Absoluten Versicherung" ist bevölkert von den Reichen und den Schönen. Sie leben nur zu ihrem Vergnügen und wollen alle Unbilden des Lebens ausschließen. Ihre Welt ist die Insel der Seligen. Zu ihnen gehört Atlas, der sich von Anhängerinnen wie Ambrosia oder Sibylle schmeicheln läßt. Zunächst scheint auch Celestine, die Frau des Fürsten, zu ihnen zu gehören, die sich hier unerkannt aufhalten will, um von einer Schwangerschaft befreit zu werden, da das Kind erbkrank auf die Welt kommen wird. Doch die Interessen des Hofes stehen ihren Wünschen entgegen. Sie wird nicht abtreiben können.

Die andere Welt ist die längst vergangene Welt der ehemaligen Bewohner dieser Insel, eines Hirtenvolks, Männer in Tierfellen und Frauen, die von Kindern umgeben sind. Hier werden die überzähligen Säuglinge getötet, um den Platz für die Lebenden zu erhalten. Ihr Hauptvertreter ist Syros, der heimliche König dieser Insel. Ihm gefällt das Leben unter der Leitung des Atlas, ein Leben ohne Kinder. Für ihn ist es "die gute Zeit". Doch sein Enkel Vaphio wird den von ihm verschuldeten Tod des Mitglieds eines anderen Bergstammes mit dem Kreuzestod büßen müssen. Syros soll dessen Schuld auf sich nehmen und an seiner Statt den Kreuzestod sterben. Das lehnt er ebenso ab wie den Wunsch seines anderen Sohnes, dessen Kind zu töten, da jener dieses nicht ernähren könne.

Celestine, die vom Kreuzestod Vaphios erfährt, nimmt dessen Schuld auf sich. Sie, die das kranke Kind trägt und somit einer bösen Zeit entgegenblickt, wird den Kreuzestod auf sich nehmen, um sich selbst zu erlösen.

Barlach äußert sich zu diesem Drama im Tagebuch vom 18. Januar 1930: "Wie lebt sich's denn in diesem Leben, geht's etwa gut, sind wir in der guten Zeit, lohnt es sich, oder wär's etwa besser nicht - da stimmt was nicht. Aber eine Stimme ist doch, eine feste, die antwortet: Setzt euch in Übereinstimmung mit euch selbst, schafft in euch Wissen vom Wohlverhalten vor dem eignen Urteil - und ihr habt die gute Zeit."

Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 46.

Im Drama Die gute Zeit gelingt es Barlach zwei Parallelwelten nebeneinander existieren zu lassen: eine zeitgenössische mondäne, elitäre Gesellschaft, die sich in eine Luxusherberge am Ende der Welt eingekauft hat, um ein sorgenfreies, verantwortungsloses, lustvolles, egozentrisches Leben zu führen. Unter der Ägide von Atlas, der als Guru (Führer) oder Leiter dieser Gemeinschaft fungiert und der die Absolute Versicherung, die AV, ins Leben gerufen hat, kann sich diese höher gestellte Gesellschaft vom Leid dieser Welt freikaufen.

Daneben existiert die historische Welt des Syros und seiner Sippe, die seit Jahrtausenden nach archaischen, primitiven Riten in freier Natur lebt. Gewalt, Brutalität und Verrohung bestimmen den Lebensalltag. Hier haben sich noch keine Individuen ausgeprägt, seine Söhne sind vollkommen gleich und zu keiner Meinung fähig. Überschüssige Kinder, die die Überlebenschancen der Sippe gefährden, werden getötet.

Unter der Obhut des Atlas befindet sich auch Prinzessin Celestine, die ein Kind vom erbkranken Regenten erwartet und nach Befreiung von ihrer Schuld sucht. Korniloff, ein Getreuer ihres Mannes, sucht sie und soll sie zurückbringen.

Als Vaphio, ein Mann aus der Sippe des Atlas, wegen eines Vergehens getötet bzw. gekreuzigt werden soll, erkennt Celestine dies als Chance ihrer Heilung: Sie lässt sich an seiner Statt kreuzigen, um ihrem kranken Kind ein leidvolles Leben zu ersparen und von sich die Schuld eines sinnentleerten, verantwortungslosen Lebens abzuwenden.

Celestine ist damit der Anfang einer neuen Menschengeneration, die in Freiheit über ihr Schicksal entscheidet und wieder Verantwortung übernimmt. Ihr Freitod, eine extreme Lösung von Problemen, ist mit Barlach dabei auf einer philosophisch-ideellen Ebene zu betrachten. Schon im Hinblick auf den Armen Vetter meinte Barlach in einem Brief an seinen Vetter Karl Barlach: "Kinder, denkt daran, daß es so, wie es ist, trostlos mit uns aussieht, und rettet euch, wenigstens in der Idee, in ein würdigeres Dasein, da ihr euch ja nicht alle umbringen könnt!" (Briefe I, S. 540, Karl Barlach, Güstrow, Frühjahr 1919, Freitag)

Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 369 f.

Kritik:

Ernst Barlach ist für Berlin niemals ein Erfolg gewesen; Grund genug, ihn nach einigen Versuchen auf die Totenliste zu setzen. In Berlin kann einer nur durch Serie bekannt werden, wenn nicht durch einen katastrophalen Durchfall, der alle Augen auf ihn lenkt. Barlach aber, der unbestrittene Meister in Holz, ist und bleibt bei aller Umstrittenheit in Manuskriptpapier eine Erscheinung, von der man später mit hundert Vorbehalten dennoch sprechen wird, später, wenn die Nichts-als-Zeitgenossen, die aus Reportage - Reportage machen, längst den Weg aller Makulatur gegangen sind.

Er ist nicht Dramatiker, auch diesmal nicht, er dichtet "falsch", aber es ist doch eine Besessenheit in ihm, eine Weihe des Abgesonderten, des Persönlichen, des Einmaligen. Man fühlt, wie die Zeit flutartig in sein Innerstes eingebrochen ist, wie sie dort Blasen wirft, wie sie ihn mit Fragen aufwirbelt. Fragen um Letztes, auf die jede Antwort immer nur wieder Frage ist, und die eine geschlossene dramatische Form nicht zulassen. Er hat kein philosophisches System, er ist mehr Grübler als Denker, und die Antwort, die er seinem Fragen findet, hat oft mehr Klang als Inhalt. Das alles wissen wir, und weil doch von diesem Mann ein seelischer Reiz ausgeht, weil die Einheit dieses Künstlerwesens eine Ruhe darstellt in der zerklüfteten Unruhe, die unser Alltag ist, fahren wir doch ins Tal der Weißen Elster, zu dem kleinen gepflegten Theater in der Stadt der Wollwaren und sonstiger nützlicher Dinge. Wir fahren - hoffend, daß Ernst Barlach endlich "gelernt" habe, Stücke zu schreiben. Wir fahren - sorgend, daß er es niemals lernen werde. Die Sorge wird bestätigt, die Hoffnung wird es nicht, daran läßt sich nicht rütteln. Der Mann bleibt uns nahe, sein Werk bleibt fern. Den Sucher finden und ehren wir von neuem; nicht das, was er suchend gestaltet.

Fritz Engel, Ernst Barlach: "Die gute Zeit". Uraufführung am Reussischen Theater Gera 28. November 1929, in: Elmar Jansen (Hg.), Ernst Barlach: Werk und Wirkung. Berichte, Gespräche und Erinnerungen, Berlin: Union 1972, S. 159-163.