Ansprache auf dem Alten Friedhof in Mölln
von Peter Godzik
aus Anlass einer Gedenkfeier für die in den Jahren 1941-1945 verstor-benen Kinder der osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen am 22. Juni 2001 (60 Jahre nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges)
Nach dem berühmten Buchtitel der schwedischen Autorin Ellen Key hätte es "das Jahrhundert des Kindes" werden sollen - das gerade zu Ende gegangene 20. Jahrhundert. Es wurde das Jahrhundert der Kriege und Vertreibungen mit unsäglicher Not gerade auch für die Mütter und Kinder. In der Möllner Munitionsfabrik sind in den Jahren zwischen 1941 und 1945 27 Kinder von russischen Zwangsarbeiterinnen ums Leben gekommen, deren Gräber wir heute besuchen.
Es ist der gemeinsame christliche Glaube, der uns die Kraft gibt, uns den Schrecken der Vergangenheit zu stellen, Versöhnung zu suchen an den Gräbern und uns gegenseitig zu versprechen, uns mit aller Kraft für den Frieden unter den Völkern einzusetzen.
Wir haben in der biblischen Lesung das Evangelium von der Bedeutung der Kinder gehört. Jesus stellt sie in die Mitte und bittet die Erwachsenen, umzukehren zur Einfachheit und Himmelsnähe der Kinder. Kinder schauen nach oben und sie strecken die Hände aus nach Hilfe. An ihnen könnten wir lernen, menschlich zu sein: nämlich begrenzte Wesen, die auf Hilfe angewiesen sind, die nur gemeinsam wachsen und gedeihen können und die einen Raum des Schutzes und der gegenseitigen Unterstützung brauchen, um sich so entwickeln zu können, wie Gott es mit ihnen gemeint hat.
Mitten in die Schrecken eines entsetzlichen Krieges hat Gott neues Leben gegeben. Wir wissen nicht, wie viel Liebe zwischen Menschen dabei eine Rolle gespielt hat oder wie viel Missbrauch und Gewalt auch damals schon im Spiel war. Nur mitten hinein in das, was Menschen einander Böses zumuteten, wollte Gott mit dem Leben der Kinder ein Zeichen der Liebe und Umkehr geben. "Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen", so könnte man die Botschaft übersetzen, die Gott mit dem Leben dieser Kinder schenkte.
Es gab auch Menschen, die diese Botschaft verstanden. Die Hebamme zum Beispiel, die sich im Lager der Zwangsarbeiterinnen um die Kinder und ihre Mütter kümmerte, die sich um die Säuglinge bemühte, soweit es ihr eben möglich war, die Bettwäsche für sie nähte usw. Aber die Ernährung, die Kälte und die Möglichkeiten zur Versorgung der Kinder waren so schlecht und schlimm, dass sie oft schon an geringfügigen Infekten starben. Es war eine Zeit, in der das einzelne Menschenleben wenig galt.
Und so verhallte der Ruf zur Umkehr, der mit jedem Kind an die Ohren der Menschen drang. Sie hörten es, sie sahen es, aber sie schlossen ihr Herz nicht auf und kehrten nicht um. Oder es wurde ihnen nicht erlaubt, umzukehren, wenn sie ihr Herz geöffnet und die Botschaft der Kinder verstanden hatten.
Es gehört zu den schrecklichsten Erfahrungen und Verirrungen im Leben von Menschen, dass sie den Ruf zur Umkehr nicht mehr wahrnehmen können, ihn nicht befolgen oder an der Befolgung gehindert werden - durch eigene oder fremde Schuld. Darin zerbricht ihr eigenes Leben. Sie zerstören sich selbst, die tiefsten Kräfte der Liebe und Versöhnung. Jesus geht so weit zu sagen, dass, wer Kinder ablehnt und verachtet, eigentlich Gott ablehnt und verachtet. Im Sterben der Kinder ist Unmenschlichkeit und Gottlosigkeit zum Vorschein gekommen und die tiefe Verzweiflung von Menschen, die nicht mehr oder noch nicht wieder die Kraft hatten, umzukehren zu einem Leben in Solidarität und Gerechtigkeit, in gegenseitiger Liebe und Barmherzigkeit.
Und so klagen wir nicht nur um das Leben dieser Kinder und ihrer Mütter, sondern über die Lieblosigkeit und Unbußfertigkeit der Menschen, die das alles bewirkten, verschuldeten und zuließen, die es nicht verhindern und nicht aufhalten konnten, was an Ungerechtigkeit und Gewalt damals geschah.
Was können wir tun, die wir das Erbe dieser schlimmen Ereignisse antreten mussten? Spät und hoffentlich nicht zu spät ist ein Fonds zur Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aufgelegt worden. Er bringt zerbrochenes Leben, Glück und Unversehrtheit nicht zurück. Er kann niemals ein Ausgleich sein für erlittenes Unrecht. Aber er ist ein Zeichen, dass angesichts solcher Geschehnisse nicht einfach vergessen und zur Tagesordnung übergegangen wird.
Er nimmt auch eigene Interessen wahr, hoffentlich nicht nur äußere und wirtschaftliche, sondern auch innere und geistliche. Nur durch Buße, Umkehr und Versöhnung können wir frei werden zu einem Leben in Gerechtigkeit und Frieden. Nur durch Buße, Umkehr und Versöhnung können wir heranwachsen zu einer wahrhaft menschlichen Gemeinschaft mit allen Menschen guten Willens in der Welt.
Wir verneigen uns vor den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft und erbitten von ihnen eine Kraft und eine Versöhnung, die nur sie schenken können, wie jenes jüdische Gebet, das aus einem KZ überliefert ist und dort gebetet wurde:
Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind,
und ein Ende sei gesetzt aller Rache
und allem Reden von Strafe und Züchtigung.
Aller Maßstäbe spotten die Gräueltaten;
sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft,
und der Blutzeugen sind viele.
Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden,
dass du sie ihren Henkern zurechnest
und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst,
sondern lass es anders gelten.
Schreibe vielmehr allen Henkern und Angebern und Verrätern
und allen schlechten Menschen zu und rechne ihnen an:
All den Mut und die Seelenkraft der andern,
ihr Sich-Bescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei allem,
die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab,
das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ,
und alle Liebe und alle Opfer, all die heiße Liebe.
Alle die durchgepflügten, gequälten Herzen,
die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben
angesichts des Todes und im Tode,
ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche.
Alles das, o Gott, soll zählen vor dir
für eine Vergebung der Schuld als Lösegeld,
zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit.
All das Gute soll zählen und nicht das Böse.
Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein,
nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck,
vielmehr ihre Hilfe, dass sie von der Raserei ablassen.
Nur das heischt man von ihnen,
und dass wir, wenn alles vorbei ist,
wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen
und wieder Friede werde auf dieser armen Erde
über den Menschen guten Willens,
und dass der Friede auch über die anderen komme. Amen.