Kreuzweg am Karfreitag
von Peter Godzik
Es kostet viel Kraft, das Kreuz Christi in seiner tiefen Bedeutung für uns aus zu meditieren. Aber es scheint auch eine innere Notwendigkeit zu sein, sonst wären die Gottesdienste nicht so voll am Karfreitag.
Leiden, Liebe und Schuld - Verlassenheit, Angst und Verzweiflung des menschlichen Herzens finden hier ihren Ausdruck, brechen sich Bahn, nehmen uns hinab in unsere eigene Tiefe. Und wenn wir dann ganz unten angekommen sind, uns wehrlos ausgeliefert haben den Gefühlen, die uns sonst so viel Angst machen, gegen die wir uns sonst so heftig wehren, dann geschieht das Wunder, dass Ruhe einkehrt und ganz allmählich etwas Neues wächst aus den Tiefen des Schmerzes und der Einsamkeit.
Es ist eine Bewegung von oben nach unten, von außen nach innen, die sich bei uns am Karfreitag vollzieht. Sie schmerzt, sie tut weh - aber sie vermittelt uns auch die Erfahrung, dass wir uns nicht zu fürchten brauchen vor unserer eigenen Tiefe. Es wächst Kraft daraus und eine neue Freude.
Das Kreuz: "Es schlägt den Stolz und mein Verdienst darnieder, es stürzt mich tief, und es erhebt mich wieder, lehrt mich mein Glück, macht mich aus Gottes Feinde zu Gottes Freunde." (EKG 71,5)
Es ist eine alte Sitte, am Karfreitag den Weg Jesu ans Kreuz nachzugehen, Halt zu machen an 14 Stationen des Kreuzweges und nachzudenken über die Bedeutung des Kreuzes für uns. Es ist ein bewußtes Nachgehen des Weges Jesu und zugleich ein Weg in die Tiefe des eigenen Herzens. Ich möchte Sie einladen, mit mir zusammen einen, solchen Kreuzweg zu gehen, Halt zu machen an vier Stationen und dabei das Kreuz Jesu zu bedenken in seiner Bedeutung für uns.
Gethsemane - so heißt für mich die erste Station: das Zurückweichen vor dem Kreuz, die Bitte um Verschonung. Jesus ruft: "Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber." Ich kenne diesen Schrei. Es ist der Schrei jedes Menschen, der einen Leidensweg vor sich hat. Keiner mag sich einlassen auf das Kreuz, das auf ihn wartet, auf die bevorstehende Trennung, auf den Schmerz, auf den unentrinnbaren Tod. Jeder von uns hat sein Gethsemane, die Stunde, in der er bittet: "Vater, wenn's möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen." Es ist meist nur eine kurze Station, ein letzter Halt, ehe wir uns auf den schweren Weg des Leidens einlassen, einlassen müssen.
Es ist ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen, ein heftiger Kampf und tiefe Einsamkeit. Keiner leidet gern, keiner stirbt gern.
Aber dann kommt Golgatha, die nächste Station: "Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz." Das Leiden lässt sich nicht vermeiden in dieser Weit. Es hat keinen Zweck, ihm auszuweichen. Es gehört zum Leben dazu wie Essen und Trinken, wie Wachen und Schlafen. Es bedeutet Tiefe des menschlichen Erlebens, aber es stellt auch eine große Gefahr dar: es berührt die Gottesbeziehung, es gefährdet das Vertrauen in den Urgrund des Lebens.
"Mein Gott mein Gott, warum hast du mich verlassen", schreit Jesus am Kreuz. Es ist der Schrei aller Menschen, die sich auf die Tiefe des Leidens eingelassen haben, die nicht versuchen, vor dem Leben und vordem Sterben davonzulaufen.
In seinem Gedicht "Der Ölbaumgarten" hat Rainer Maria Rilke diese Erfahrung in solche Worte gefasst:
"Ich finde dich nicht mehr. Ich bin allein.
Die Sich-Verlierenden lässt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mutter Schoß."
Golgatha - das ist, wenn der Schmerz, vor dem wir zittern, uns einholt. Wenn nach langem Warten und Kämpfen die Nägel sich durch die Handflächen bohren und wir ganz ausgeliefert sind dem Schmerz, der Verzweiflung, der tiefen Verlassenheit. Wir denken dann, wenn wir überhaupt noch denken können: Jetzt ist alles aus. Aber es ist noch nicht das Ende.
Es gibt noch eine dritte Station, jenseits von Gethsemane und Golgatha, für die ich keinen Namen weiß. Sie ist bezeichnet durch die letzten Worte Jesus am Kreuz: "Es ist vollbracht."
"Es ist vollbracht", sagt Jesus am Kreuz. Und es ist, als ob er mit diesen Worten schon gar nicht mehr hinge an dem Holz, an das man ihn nagelte, um ihn endgültig zu bannen in den Tod. Aber es ist eben nicht alles aus und vorbei, "es ist vollbracht"!
Diese Worte machen Jesus frei von aller Last der Vergangenheit, von der Qual seines Leidens. "Es ist vollbracht", das sagen auch Menschen, die hindurch sind, für die jenseits des absoluten Tiefpunkts ein neues Leben beginnt.
Bei Jesus lässt sich das auch noch weiter inhaltlich beschreiben, was vollbracht ist, was durch seinen Tod Neues beginnt.
"Es ist vollbracht": Jesus ist seinen Weg, den Weg eines wahrhaft erwachsenen Menschen, zuende gegangen. Es war nicht leicht für ihn. Schon am Anfang hatte er sich gegen die Versuchung zu wehren, auf ewig ein Kind zu bleiben und sich in die Arme der Engel, der Mutter, des ewig behütenden Gottes zu werfen. Er hatte dieser Versuchung widerstanden, sich einfach umgedreht und war seinen Weg der Liebe gegangen durch Anfeindung, Entbehrung und Leiden, wie ein erwachsener Mann.
Auch ein zweites Mal wies er diese Versuchung zurück, laut und deutlich, als Petrus ihn vom Leiden und vom Weg ans Kreuz abhalten wollte.
Und jetzt am Kreuz schreit er: "Eli, eli, lama asabthani - mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Es klingt wie ein kindlicher Schrei nach dem Vater, wie ein letzter, verzweifelter Hilferuf. Aber ich deute diesen Schrei anders: Es ist ein Schrei des endgültigen Erwachsenwerdens.
Und der Schmerz, der in diesem Schrei steckt, ist der Schmerz einer neuen Geburt. Jesus stirbt nicht wie ein Kind, das immer noch auf das helfende Eingreifen des Vaters wartet. Er beginnt, auf den Vater zu verzichten, ja selber in ihn hineinzuwachsen: "Ich und der Vater sind eins." Es ist vollbracht!
Nehmen wir überhaupt wahr, was da Neues geschieht? Gott ist nicht mehr im Himmel. Er hängt dort am Kreuz. Die Liebe ist nicht länger überirdische, eingreifende, sich behauptende Macht, wie wir es so gerne hätten. Die Liebe ist ohnmächtig, geschlagen ans Kreuz.
Das Kreuz meditieren heißt, von unsern kindlichen Träumen Abschied zu nehmen. "Es ist vollbracht": einer ist wirklich erwachsen geworden.
Am Sterben Jesu, an diesem einen Satz, wird mir deutlich, wie wenig ich, wie wenig wir wohl alle wirklich erwachsen geworden sind. Es ist noch nicht vollbracht! Wir träumen ja noch immer unsere kindlichen Träume von Macht und Überlegenheit. Wir quälen ja noch immer andere und uns selbst, nur um wieder die Größten zu sein. Wieviel Leid bringen wir damit jeden Tag über die Erde! Wir brauchen doch nur die schrecklichen Waffen zu sehen oder all die lebensbedrohenden Technologien zur Erhaltung von Macht und Ansehen. Es ist noch nicht vollbracht! Wir sind noch lange nicht erwachsen geworden. Vielleicht hat es einen tiefen Grund, weshalb ich keinen Namen für diese dritte Station jenseits von Gethsemane und Golgatha weiß. Ich bin noch nicht dorthin gelangt, wo ich wirklich sagen könnte: Es ist vollbracht. Aber einer ist mir, ist uns allen vorangegangen: Jesus von Nazareth. Sie sagen, er sei im Himmel, und meinen damit sicher nicht einen Platz über den Wolken, sondern vielleicht jene Stelle, an der einer mit Recht sagen kann: "Es ist vollbracht, ich bin hindurch. Ich habe etwas Wesentliches gelernt für mein Leben. Ich bin reifer, erwachsener geworden." Himmel - da hört dann alles Stückwerk auf, da dürfen wir ablegen, was kindlich ist, und ihn sehen, wie er ist.
Für uns, die wir noch nicht so weit sind, dass alles gelernt und alles vollbracht ist, bleibt noch eine vierte Station, eine vierte Betrachtung des Kreuzes Jesu.
Da sind Menschen unter dem Kreuz, zu denen sagt Jesus: "Weib, siehe, das ist dein Sohn!" Und (zu dem Jünger): "Siehe, das ist deine Mutter."
Unter dem Kreuz, im Warten auf einen Gott, der eingreift, der nicht zulässt, das solches Leiden hier auf Erden geschieht, werden wir aneinander verwiesen: siehe, das ist dein Sohn; siehe, das ist deine Mutter. Damit beginnt ein langer Weg für uns, der am Ende vielleicht auch zum Ziel führt.
Gott hat keine anderen Hände als die unseren. Er greift nicht ein von oben, sondern durch uns. Durch die Kraft einer Liebe, die sich auch im Angesicht des Todes und des größten Elends nicht davon abbringen lässt, das jetzt Nötige zu tun.
Gethsemane und Golgatha - das sind Stationen des Leidensweges Jesu, die einen Namen haben, weil wir sie kennen. Jenseits von Gethsemane und Golgatha gibt es Stationen, die keinen Namen tragen, weil sie kein fester Ort sind, sondern eine immer wieder neu zu bewältigende Aufgabe:
- der Glaube, der nicht zuschanden wird, der auch noch die Abwesenheit Gottes in dieser Welt erträgt;
- und das Tun, das diesen Glauben im Alltag bewährt.
Mir steht eine Szene vor Augen für das, was ich meine, die eindrücklichste für mich aus dem Film "Holocaust": Moses Weiß, der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, greift angesichts des Erschießungskommandos nach der Hand des Jungen nehmen ihm. Alle fassen sich an, die übriggeblieben sind. Und Moses Weiß spricht laut das Glaubensbekenntnis seiner Väter: "Schma Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Ächad - Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einer ..." Schüsse fallen. Menschen sinken zusammen. "Es ist vollbracht." Es ist zum Weinen. Aber wir brauchen solche Liebe und solchen Glauben unter uns. Wir alle leben und zehren davon.
In: Kirche in Büdelsdorf. Information - Besinnung - Meinungsbildung, Ausgabe März 1987.