Die Harmonie des Bauwerks
Bei der Michaeliskirche ist das zugrundeliegende Werkmaß der fränkische Fuß mit 32,5 cm. Das ist wesentlich für die Feststellung der Maße am Bau. Ebenso wichtig sind aber auch die Verhältnisse der Zahlen an den einzelnen Bauteilen. Die Abmessungen von Längen, Breiten und Höhen sind keineswegs willkürlich oder nach Gefühl bestimmt, sondern nach Regeln harmonischer Komposition, wie sie von Boethius dargestellt worden sind.
Dreiecke galten als Ursprung aller Flächenfiguren und Tetraeder (Vierflächner) als Grundlage körperlicher Figuren. Die dem Tetraeder zugeordneten Zahlen - numeri solidi - waren hohe Mathematik und Vermittler des Ebenmaßes. Die Summe der Triangularzahlen 1, 3, 6, 10, 15, 21, 28, 36 ergab die Zahlenreihe des Tetraeders 1, 4, 10, 20, 35, 56, 84, 120. Von diesen Zahlen sind fünf wichtig für die Proportionen am Bau von St. Michaelis: 10, 20, 35, 56 und 84. So mißt das Langhaus 84 Fuß und die Krypta bis zur Westvierung 56 Fuß, während die Vierungen zwischen Langhaus und West- bzw. Ostchor 35 Fuß haben.
Bei der Festlegung der Maße ging es um ein überzweckmäßiges Bemessen, um ein Hineinlegen auserwählter Maße in den Raum. Das Zahlenprinzip harmonischer Baukörper ist von Anfang mit dem Bauplan entworfen und danach vom Fundament her mit dem Mauerwerk aufgewachsen und zu einer untrennbaren Einheit mit dem Bau verschmolzen. Dieses Zahlenprinzip zu kennen ist zwar für den Betrachter der Michaeliskirche nicht entscheidend, aber die Vorstellung von der Harmonie und Schönheit des grandiosen Bauwerks wird deutlicher, wenn man davon weiß.
Neben den numeri solidi ist das Quadrat ein wichtiges Element für die Struktur der Kirche. Es symbolisiert die Zahl "vier" als Zahl des Kreuzes (Kreuzreliquie), der Totalität und der Vollkommenheit. Bernward schafft dadurch eine Kirche von beeindruckender Harmonie. Diese Harmonie ist nicht nur optisch erlebbar, sondern zeigt sich in der ausgezeichneten Akustik für jede Art von Musik. Die Michaeliskirche versteht sich als steingewordenes Abbild göttlicher Ordnung und Vollkommenheit. Sie stellt damit Gottes ordnendes Handeln dar, wie es sich in Weltschöpfung ("Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet", Wsh 11,21) und Welterhaltung zeigt. Sie ist ein Ort des Vertrauens: Dieses Handeln Gottes ist verlässlich. Die Kräfte der Zerstörung, die in der Welt am Werk sind und ihre Existenz immer wieder bedrohen, erweisen sich nicht als so stark, dass sie Harmonie und Leben auslöschen könnten. Sie ist aber auch ein Ort der Hoffnung: Die göttliche Harmonie, die jetzt nur gebrochen und abbildhaft erlebbar wird, wird einmal das Bild einer vollendeten Welt "Reich Gottes") prägen.