Die Dramen:
- Der blaue Boll
"Als Fritz Strich vor sechs Jahren dem Bildhauer-Dichter den Kleist-Preis zusprach, geschah es in der Hoffnung, Barlach werde 'die Reste ungestalteten Geistes überwinden und das Drama großen Stils schaffen'. Die Zuversicht hat sich nicht erfüllt, wird sich nicht erfüllen. Barlachs Signum ist ein für alle Mal, daß sein Ethos groß, daß aber seine dramatische Unsicherheit ebenso groß ist. In seiner Abseitigkeit, in der edlen Form seines Alleinseins, in seinem Aufblick zu den Gestirnen hoch über der gewöhnlichen Welt ist er so grundverschieden von denen, die sich nur vom Stoff einfangen lassen und nur der Welt und sich selbst zuliebe schreiben, daß man erstaunt ist, auch ihn nach dem weithin schallenden Sprachrohr der Bühne greifen zu sehen. Aber man überlegt und begreift. Im innersten Kern ist Barlach Dramatiker, weil er die ungeheure Gegensätzlichkeit der menschlichen Triebe und damit ihr Drängen zur kämpfenden Auseinandersetzung empfindet. Er nun gerade hat auch den Sinn für das Dreidimensionale, das einen nur erträumten Körper, wie in der Werkstatt des Bildhauers, so auch auf der Bühne zu einem wirklichen macht. Aber stets fehlt es ihm an Verständnis für die besondere Begrenztheit der Bühne ..." (Fritz Engel zum Drama "Der blaue Boll", Premiere: 6. Dezember 1930. Die Berliner Inszenierungen im Spiegel der Kritik 1921-1930, in: Elmar Jansen (Hg.), Ernst Barlach: Werk und Wirkung. Berichte, Gespräche und Erinnerungen, Berlin: Union 1972, S. 207)
Der blaue Boll (1926)
uraufgeführt: 1926 Stuttgart (Friedrich Brandenburg)
inszeniert:
1930 Berlin (Jürgen Fehling),1934 Altona (Kurt Eggers-Kestner),
1953 Essen (Heinz Dietrich Kenter), 1959 Mannheim (Heinz Joachim Klein),
1961 Berlin (Hans Lietzau), 1967 Darmstadt (Hans Bauer),
1972 Lüneburg (Max Löhlein),
1981 Berlin (Frank-Patrick Steckel), 1983 Hamburg (Michael Gruner), Lübeck (Paul Bäcker), 1985 Berlin (Rolf Winkelgrund; DDR-Fernsehen 1988),
1990 Karlsruhe (Fritz Groß), 1991 Münster (Nikola Weisse), München (Hans Lietzau; Video-Aufnahme), 1995 Neustrelitz u.a. (Peter Lüdi), Schwerin (Ingo Waszerka), 1999 Bremen (Thomas Bischoff),
2000 Bad Godesberg (Valentin Jeker)
Inhalt:
Im Blauen Boll, einem Drama in sieben Bildern, steht der Gutsbesitzer Boll, nicht nur rot, sondern schon blau vom Genuss guten Essens und Trinkens, im Zentrum des Geschehens, des Werdens. Auch Grete, die Frau des Schweinehirten, im Dorf als "Hexe" bezeichnet, will eine andere werden. Und Boll soll ihr dabei helfen. Eigentlich fühlt er sich von ihr, der jungen Frau, als Mann angezogen, doch bringt es das Geschehen mit sich, daß er für sie die Verantwortung übernimmt, sie aus der Herberge zur Teufelsküche in die Kirche bringt und dort auf ihre Ernüchterung wartet.
Zwar wollte Grete Gift haben, um sich und ihre drei Kinder "vom Fleische" zu erlösen, doch war es nur Alkohol, der sie einen Blick in die Hölle tun ließ, wo sie vertraute Gestalten, so auch Boll und ihre Kinder, erblickte. Dieser Schrecken bringt sie zur Einsicht, daß sie zu ihren Kindern, ihrem Mann, überhaupt zurück ins Leben zu gehen habe.
Die Menschen um Boll, seine Frau Martha und sein Vetter, der Gutsbesitzer Prunkhorst, fürchten jede Änderung; Martha versteigt sich sogar zur Aussage, daß ihr ein toter Boll lieber sei als ein veränderter. Doch muß sie "das Werden" Bolls hinnehmen. Der Vetter gar erlebt die Änderung seiner selbst nicht mehr. War Boll zu Beginn des Dramas vom Schlaganfall bedroht, so erleidet Prunkhorst ihn nach einer durchzechten Nacht.
Daß Barlach Alkoholgenuss und dessen Auswirkungen durchaus kannte, ist in seinem "Selbsterzählten Leben" aufgeschrieben: "Ich lernte unter seiner (Grabers) Anleitung ehrbar zechen, einen Trunk tun, ohne die Besinnung zu verlieren ... Ich litt an Herzbeschwerden und ward Patient bei Dr. Klencke. Klencke riet mir Mäßigkeit an." Und genau diese Mäßigkeit will auch der neue Boll üben, jedoch vor allem er selbst sein.
Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 48.
Der Gutsbesitzer Kurt Boll aus Krönkhagen leidet unter einer schweren Depression. Auslöser der elementaren Existenzkrise, die von Gedanken der Selbstzerstörung begleitet wird, ist das Gefühl, ein egoistisches, sinnentleertes und nutzloses Dasein zu führen. Als er mit seiner Frau Martha nach Sternberg fährt, um Einkäufe zu erledigen und ein Treffen mit seinem Vetter Otto Prunkhorst und dessen Frau Bertha im Gasthof Zur goldenen Kugel wahrzunehmen, führt ihn seine Alkoholsucht als erstes ins Wirtshaus Bierhals & Co. Er entflieht damit auch der Einkaufswut seiner Frau, die seiner Wesensveränderung hilflos und unverständig gegenübersteht.
Auf seinem Weg ins zweite Gasthaus begegnet ihm die labile und desorientierte, psychisch-verwirrte Grete Güntal, die vor ihrem Mann, dem Schweinehirten Grüntal aus Parum, flieht. Als er ihr auf der Straße begegnet und sie zurückholen will, gelingt es Grete mit Hilfe Bolls, zu entkommen und sich im Turm der Kirche zu verstecken. Boll folgt ihr und erfährt in diesem hortus conclusus von ihrem innerlichen Drama: Da sie die Verantwortung für ihr eigenes Dasein und das ihrer Kinder nicht tragen kann - sie hat Sorge, ihre eigene Angst vor dem Leben auf die Kinder zu übertragen - erwägt sie in ihrer Verzweiflung ihre Kinder zu vergiften. Sie bittet Boll in seiner einflussreichen gesellschaftlichen Stellung ihr das Gift zu besorgen.
Boll, der sich von Grete angezogen fühlt, sich aber seiner Mittäterschaft bewusst wird, gibt vor, ihr das Gift zu besorgen und es ihr am Abend aushändigen zu wollen. Bei dem nächtlichen konspirativen Treffen in einer dunklen Straße muss Grete jedoch feststellen, dass Boll das Gift nicht beschafft hat und ausschließlich sexuelle Ambitionen hegt. Grete hätte sich ihm aber nur hingegeben, wenn er den Minnedienst erfüllt hätte.
Stattdessen geraten beide in eine surreale Traumszenerie, angeführt von dem teuflischen Wirt Elias, der im Dunkeln eine Abendgesellschaft bewirtet sowie einen Herrn, Gottvater, der eine Bleibe für die Nacht sucht. Elias trennt Boll und Grete und führt Grete in ein jenseitiges Hotelzimmer, in dem sie ihrem Trauma begegnet. Aus Angst wird Liebe, als sie in einer Höllenvision ihre totgewünschten und vernachlässigten Kinder erblickt, die umgeben von lebendigen Toten und dem wirtschaftenden Elias ihrem Schicksal preisgegeben sind.
Erleichtert sinkt sie in den Schoß von Elias' Satansweib Doris, als sie gewahr wird, dass eine vermeintliche Flasche mit Gift an ihren Kindern vorbeigegangen ist. Hier im mütterlichen, alles verschlingenden Schoß von Doris wird sie von allem Leid freigesprochen und macht eine geistige Neugeburt durch. Doris bestätigt ihr auch die Verwandlung des blauen Boll zum neuen guten Boll, den Grete in ihrer Vision als einstigen jungen roten Boll sah, wie er ihren Kindern eine goldene Kugel zum Spielen gab.
Am Morgen erwacht Grete im Turm der Kirche. Boll hat sie, nachdem sie vor Elias' Hotel ohnmächtig wurde, in der Nacht an diesen Platz gebracht. Sogleich zieht es sie zurück zu ihren Kindern nach Parum. Nach einem Zwiegespräch mit dem Herrn begibt sich auch Boll auf einen neuen, verantwortungsbewussten Lebensweg.
Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 338.
Kritik:
In der aktuellen Spielzeit (2000/2001) präsentiert "Bergfuchs" Jeker in den Bad Godesberger Kammerspielen ein realistisch-phantastisches Drama aus dem flachen Norden, welches vor über 75 Jahren geschrieben wurde. Die Entdeckung des Regisseurs heißt diesmal Ernst Barlach, dessen Arbeiten als Bildhauer geschätzt sind, während sein literarisches Schaffen (Prosa und Dramen) weniger populär ist.
Wie alle Theaterstücke des Autors konnte sich auch das 1926 uraufgeführte sechste Drama Barlachs, "Der blaue Boll", trotz einiger bemerkenswerter Inszenierungen im Laufe der Jahrzehnte nicht dauerhaft durchsetzen. Angesichts der stimmigen Regiearbeit Jekers ist dies für das Bonner Publikum kaum nachvollziehbar. Denn der Dramatiker Barlach hat mit einer komisch anmutenden, eigenwilligen Sprache und den erdverbundenen Typen ein vollkommenes Stück Kunst für die Theaterwelt geschaffen, das zu keiner Zeit werkfremder Elemente oder abstruser Interpretationsversuche (so wie 1999 in der Inszenierung von Thomas Bischoff in Bremen geschehen) bedarf. Jeker stellt sich mit Vorliebe der Herausforderung, Stücke zu reaktivieren, die aus heutiger Sicht als problematisch gelten. Mit dem "blauen Boll" gelingt ihm das Kunststück, die Welt der Barlach-Figuren trotz des erheblichen zeitlichen Abstandes unverkrampft heutig aufleben zu lassen. Im Zentrum des Stücks steht der angesehene Gutsbesitzer Boll (wunderbar: Michael Prelle), der offensichtlich in eine "Midlife"-Krise geraten ist und mit seiner Bemerkung, nicht mehr Boll zu sein, die Mitmenschen irritiert. Sein Drang, aus der heilen Welt bürgerlichen und selbstgenügsamen Daseins herauszutreten und ein anderer zu werden, gerät durch die zufällige Bekanntschaft mit Grete (Therese Hämer), einer verzweifelten jungen Mutter, die ihre Kinder von der Last des Lebens befreien will, an einen Prüfstein. Während es Boll nicht gelingt, das von ihr verlangte Gift zu besorgen, durchleidet die von ihrem Gewissen geplagte Grete im Gästezimmer des klumpfüßigen Wirts Elias (Jochen Langner) ein Höllenszenario. Der ebenfalls hinkende "Herrgott" (Maximilian Hilbrand), ein geheimnisvoller Tischgast Bolls, bestätigt dem Gastgeber beim Wiedersehen in der Kirche, dass jedes Werden seine Zeit hat und der Zeitpunkt für ein primitives Werden, im Sturz vom Kirchturm, verpasst sei. Boll zeigt sich einsichtig. Indem er will, was er muss, gelingt ihm der erste Schritt zur Selbstverwirklichung.
Der Erfolg einer Inszenierung ist von mehreren Faktoren abhängig, und hier findet man tatsächlich alles, was einen wertvollen Theaterabend ausmacht. Dem genial einfachen Bühnenbild Thomas Dreißigackers genügen sieben kleine Häuser, eine Kirche und die mittels Drehbühne entstehenden Einsichten kleiner Gassen und dunkler Plätze, um stimmungsvoll eine Atmosphäre zu schaffen, mit der selbst Meister Barlach aufs Höchste zufrieden gewesen wäre. Matthias Vogels Lichtarbeit schafft für jede Szene, sei es im Kirchenraum oder in den Winkeln unter freiem Himmel, in solch idealer Weise die richtige Temperatur, dass ohne Bruch eine homogene kleine Welt entsteht. Die Kostüme von Maria Roers sind den Figuren tatsächlich auf den Leib und aufs Gemüt geschneidert. Es ist überaus amüsant, die liebenswert verschrobenen Provinzler auf der Bühne zu beobachten, denn die Akteure begnügen sich nicht mit der Darstellung skurriler Gestalten, sondern lassen schlichte Charaktere aufleuchten, ohne zu denunzieren. Der Bonner Boll ist das herausragende Theaterereignis dieser Spielzeit am Rhein.
© Kultura, v.-red / 01.12.2000: Inszenierung: Valentin Jeker, Bühnenbild: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Jori Schulze-Reimpel,l Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Hermann Wündrich; mit: Michael Prelle, Monika Kroll, Therese Hämer, Hanns-Jörg Krumpholz, Wolfgang Jaroschka, Wolfgang Rüter, Karsten Gaul, Maximilian Herzogenrath/Luca Sestak, Giovanni Früh, Jochen Langner, Zeljka Preksavec, Maximilian Hilbrand, Steffen Laube, Christoph Hagin, Michael Müller-Engelhardt, Waldemar Hooge; Premiere: 18.11.2000, Kammerspiele Bad Godesberg.