Peter Godzik: Die Barlach-Dramen - ein Ringen mit Gott um den Menschen
- Nicht alles beim Alten lassen
Nicht alles beim Alten lassen
In Barlachs Drama "Die echten Sedemunds" (1920) werden lauter Kleinbürger vor Augen geführt. Sie sind anzutreffen auf dem Schützenplatz, auf dem Friedhof oder auch im Zirkuszelt. Sie heißen Ehrbahn und Gierhahn, ein guter Ruf gilt ihnen "einen ganzen Hümpel mehr als genaue Gerechtigkeit" (D 263). Ein brüllender Löwe kommt vor, der angeblich ausgebrochen ist und vor dem sich alle fürchten. Er symbolisiert das schlechte Gewissen, entpuppt sich später aber als leere Hülle, so dass doch alles beim Alten bleiben darf.
Uns Heutigen kommt beim Löwen "Schesar" (D 199) das ausgebrochene Virus "Corona" in den Sinn: für die einen ein "brüllender Löwe" mit Veranlassung zu schlechtem Gewissen angesichts himmelschreiender Missstände - für die anderen eine leere Hülle, eine Fata Morgana, kein Grund also, sein eigenes Verhalten umzustellen.
Nur Unbefangene, wie der junge Sedemund (und heute bei uns: Greta Thunberg), wagen es, die nackte Wahrheit zu sagen, und geraten damit in die Nähe der Irrenanstalt: von anderen dahin verbannt oder sich selbst darin bergend, weil in Wahrheit die etablierte Gesellschaft "irre" geworden ist in ihrem unvernünftigen Beharren auf ewig gestrigen Positionen. Barlachs Drama endet mit den Worten der jungen Leute: "Die Alten haben ihre Zeit gehabt und sind in Grund und Boden getreten. Jetzt kommen wir und nach uns unsere Kinder, alles wird gründlich anders, es lebe die neue Zeit ..." (D 265).