Unsterblichkeit
von Hans Thoma
In der Hülle eines am Boden kriechenden Wurmes ist die Sehnsucht eingeschlossen, fliegen zu wollen, wir könnten ihn auslachen, wenn wir nicht erfahren müßten, daß diese Sehnsucht glänzend erfüllt wird, wenn die Zeit dazu gekommen ist, wo dann der Wurm zu einem Wunder sich verwandelt und mit seinen farbenglänzenden Flügeln, eine losgelöste Blume, seine gebundnen Schwestern auf der Wiese in wonniger Lust umgaukelt.
- Dies irdische Gleichnis ist der Menschenseele zum Ereignis geworden, es ist zum Sinnbild der unsterblichen Verwandlung geworden, zum Siegel der Auferstehung - zur Stärkung der Seele im Glauben, daß auch ihre Sehnsucht nach freiem Flug im Lichte erfüllt wird, wenn sie die Bande, die sie mit dem Staub verknüpfen, abgelegt hat - da ihr im Erdenleben schon die Macht gegeben ist, über allen dunklen Abgründen auf Flügeln der Vorstellung zu schweben, daß sie durch die Anschauung sich von der Welt als Wille unabhängig machen kann. Der Glaube erfüllt sie, daß sie zu dem Ursprung zurückkehre, von dem sie stammt, den wir mit dem Namen, der keine Erklärung zuläßt, Gott nennen, die Gewißheit der Unsterblichkeit, der Auferstehung gibt ihr Flügel, welche sie hinwegtragen über Hölle und Tod zum Sieg. -
Aus: Hans Thoma, eingeführt von Karl Josef Friedrich. Sapientia Thomana, Leipzig: Max Müller 1924, S. 64.