Villa Neisser
In Breslau entstanden am Anfang des 20. Jh. günstige Bedingungen für neue Entwicklungen. Eine wichtige Rolle spielten im künstlerischen Leben Breslaus der berühmte Arzt und Kunstliebhaber Albert Neisser und seine Frau Toni, die um den Kreis ihrer Familie eine künstlerische Gesellschaft versammelten, was insofern einfach war, da die Familie eine 1897/1898 errichtete, vom hervorragenden Berliner Architekten Hans Grisebach entworfene, im Stile der Neorenaissance gehaltene Villa in der Nachbarschaft des Stadtteils Zalesie besaß.
Die Gastfreundschaft der Familie Neisser und die Aufgeschlossenheit neuen Kunsterscheinungen und auch der Musik gegenüber förderte die die Villa besuchenden Künstler und Intellektuellen. Viele von ihnen reicherten die Sammlung der Familie mit ihren Werken an. Unter ihnen sollte man den berühmten Architekten und späteren Professor der Akademie Hans Poelzig und Theodor von Gosen erwähnen wie auch die impressionistische Malerin Clara Sachs, die hervorragenden Musiker Gustav Mahler, Richard Strauss und Werner Sombart, den späteren Nobelpreisträger für Literatur (1912) Gerhart Hauptmann, den Dirigenten Georg Dohrn, Eugene Spiro, die Maler Fritz und Erich Erler, den Kritiker und Maler polnischer Herkunft Erich Klossowski und den Direktor der Breslauer Orchestergesellschaft Rafal Maszkowski.
Königliche Kunst- und Gewerbeschule
Der Direktor der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule Hans Poelzig, ein universal talentierter Architekt, der mit dem Verband Deutscher Künstler zusammenarbeitete und Erfolge sowohl im Entwerfen monumentaler Bauwerke als auch Möbel vorzuweisen hatte, gab auch den Anstoß zur Errichtung einer Holz-, Metall- und Steinwerkstatt, ebenso wie für die erwähnte Werkstatt für künstlerische Textilien. Seine Ideen entwickelte er dank der Zusammenarbeit mit berühmten Pädagogen und Künstlern. Darunter auch mit dem Maler und späteren Entwerfer von Gobelins und Leiter der Textilwerkstatt Max Wislicenus wie auch der Heldin der vorliegenden Schrift, der Malerin und Mitbegründerin der Werkstatt Wanda Bibrowicz, die mit Gertrude Daubert zusammenarbeitete. Zum Kreis der Erneuerer gehörten darüber hinaus der Bildhauer Theodor von Gosen, der Maler und Graphiker Carl Ernst Morgenstern.
Hans Poelzig bildete gemeinsam mit seinen Freunden, dem Architekten Max Berg, dem Entwerfer der Jahrhunderthalle, dem Maler Friedrich Pautsch, August Endell, Oskar Moll, Oskar Schlemmer und Otto Mueller, in Breslau ein bedeutendes Kultur- und Kunstzentrum und stellte damit die Stadt in eine Reihe mit den wichtigen Städten Europas. In Breslau, damals zur Kunststadt erhoben, wirkte neben anderen hervorragenden Persönlichkeiten auch die begabte polnische Künstlerin, Wanda Bibrowicz, die in der Geschichte der Webkunst dieser Stadt eine wichtige Rolle spielt, eine Rolle als Mitbegründerin eines modernen Stils der künstlerischen Webkunst, als Entwerferin und Herstellerin vieler individueller Werke, als Hochschullehrerin der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule.
Königliche Kunst- und Gewerbeakademie
1911 erlebte die Breslauer Königliche Kunst- und Gewerbeschule, als sie den Rang einer Akademie erhielt, ihre Blütezeit und hieß von nun an die Königliche Kunst- und Gewerbeakademie. Dies war ein Ereignis höchsten Ranges, es erzeugte eine optimistische Einstellung unter den Lehrern und eröffnete neue Entwicklungswege sowohl für die Professoren als auch für die Studenten.
Wanda Bibrowicz ergriff die Chancen nicht. Auf eigenen Wunsch verzichtete sie aufgrund persönlicher und emotionaler Gründe auf die Arbeit in der Akademie. Für ihre Schülerinnen, für Professor Max Wislicenus, für Professor Hans Poelzig, die ihre Arbeit außerordentlich schätzten, war dies ein Schlag. Ihren Platz in der Akademie nahmen Else Wislicenus, die Ehefrau von Max, die sich hauptsächlich auf Stickereien spezialisierte, und Gertrude Daubert, ebenfalls eine Stickerin, die beide bereits früher schon mit Wanda Bibrowicz zusammenarbeiteten.
Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas Selbstzerstörung erkennen lässt: Nationalismus und Provinzialismus, Xenophobie und Antisemitismus, die Zerstörungswut des Zweiten Weltkriegs, die Germanisierungsphantasien des Dritten Reichs und die Ermordung der europäischen Juden, der totale Zusammenbruch von 1945, die Verschiebung der Staatsgrenzen in Mitteleuropa und die Zwangsumsiedlungen, schließlich die Spaltung des Kontinents im Kalten Krieg und die geistig Erstarrung im Ost-West-Gegensatz. Breslau befand sich stets im Zentrum dieses Geschehens. Im Jahr 1945 erfuhr Breslau einen Bruch, den man sich dramatischer kaum vorstellen kann. In den letzten Kriegswochen wurde die Stadt, die eine der schönsten Europas war, in ein Trümmerfeld verwandelt und anschließend, weil die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs beschlossen hatten, dass Breslau polnisch wird, einem vollständigen Bevölkerungsaustausch unterworfen. In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Einwohnerschaft nach Westen transferiert und durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt.
Gregor Thum, Die fremde Stadt. Breslau nach 1945, München: Pantheon 2006, S. 12 f.