Morgenandacht in Hermannstadt
von Peter Godzik
Der Apostel Paulus hat andere Menschen trösten können, weil er am eigenen Leibe erfahren hatte, was das heißt: in Nöten und Ängsten sein. Er hat sich genügen lassen an der Gnade Gottes und die Erfahrung gemacht, dass Gott nahe ist mit seinem Trost und seiner Hilfe. Als Getrösteter konnte er trösten.
Können wir trösten? Haben wir genug erfahren und gelitten in unserem Leben, dass wir einander diesen Dienst erweisen können?
Ich habe zusammen mit den andern aus unserer Reisegruppe viel erlebt in den vergangenen Tagen hier in Hermannstadt und an anderen Orten Südsiebenbürgens. Die äußere und innere Not vieler Dagebliebener ist auf uns gefallen und wir haben bewegende Geschichten gehört.
Konnten wir trösten? Haben wir je auch nur im Entferntesten erlebt, was andere erlitten haben in fünf Jahren Zwangsarbeit in russischen Bergwerken zum Beispiel? Können wir nachempfinden, von so vielen verlassen zu werden und am Ende ganz allein dazustehen mit einer großen Liebe zur Heimat und zur Kirche der Mütter und Väter im Glauben?
Wir haben uns erinnert gefühlt an die tiefsten Herausforderungen unseres eigenen bisherigen Lebens. Bei mir war es die Erinnerung an Lateinamerika und das behinderte Adoptivkind, das meine Frau und ich von dort mitgebracht haben. Meine Arbeit mit schwerbehinderten und psychisch kranken Menschen ist mir wieder sehr nahe gekommen, mein Engagement für die Seelsorge und Begleitung sterbender Menschen.
Ich habe in meinem Leben auch erfahren, welche Trübsale Gott auferlegen kann und wie er gleichzeitig tröstet und Hoffnung stiftet. Er tut das auf eine ganz elementare Weise: Er zerbricht den Stolz, die Selbstmächtigkeit und lässt uns erfahren, was wirklich nährt: Brot und Wasser (wohl auch ein wenig Speck und Gartenwasser, wie wir das unterwegs erlebt haben), vor allem aber Beziehung und Nähe, Liebe und Solidarität unter den Menschen, die auf Gottes Wort hören.
Wir haben manches mitgebracht an Hilfsgütern, auch unser Interesse und unsere Neugier, aber wirklich geteilt haben die anderen mit uns, die das wenige auf den Tisch stellten und mit uns gemeinsam aßen, was sie hatten. Konnten wir trösten? Wir haben zugehört, auch unsere Eindrücke gesagt, wir haben miteinander gesungen und gebetet. Ich werde das nicht so schnell vergessen, was wir hier in diesem Land gehört und gesehen haben.
In aller Trübsal gibt es auch Hoffnung, kleine Anfänge, immer wieder von Rückschlägen bedroht: die Arbeit im Diakonieverein von Pfarrer Wagner und seinen Mitarbeitenden in Alba Julia, von Dechant Guib in Mediasch; das Altenheim in Scholten mit seinem freundlichen rumänischen Leiterehepaar; der Besuchsdienst des Bezirkskurators Prof. Philippi bei den Letzten der Letzten in den abgelegenen Dörfern, die sich so rührend und liebevoll um ihre vom Verfall bedrohten Kirchen kümmern. Es gibt die Hoffnung des miteinander geteilten Lebens, das Singen, das Beten, das Hören auf Gottes Wort, die Speise des Sakraments, die sich vor unseren Augen manchmal verwandelt in all das andere, was wir aufrichtig miteinander teilen. Eine diakonische Kirche entsteht, eine Kirche für andere, eine Kirche des guten Hirten. Symbolisch steht dafür das eindrucksvolle Altarbild in der renovierten lutherischen Kirche von Alba Julia: Der gekreuzigte Christus breitet seine Arme aus wie zum Segen für das am Boden hockende Kind, ein sprechendes Bild für das neue Rumänien, das nun vor der Aufgabe des Aufstehens und der Entwicklung steht. Diese diakonische Kirche zum guten Hirten wird auch dargestellt und dargelebt von Menschen, die selber allerlei Trübsal erlebt haben und daraus errettet wurden: angeschossen in der Revolution, einem Lawinenunglück entgangen in den Karpaten. Was gibt es nicht alles für Geschichten! Ich habe mich in den vergangenen Tagen sehr betrübt gefühlt und doch immer wieder getröstet von denen, die wirklich gelitten haben.
Der Leidende tröstet! Welch ein Geheimnis unseres Glaubens von Christus über Petrus und Paulus zu den Heiligen unserer Tage!
Gott tröstet mich, Christus tröstet mich in all dem, was ich erlebe, damit ich andere trösten kann. Ich möchte nicht apathisch werden, sondern selber auch leiden und weinen können, damit ich weiß, was es heißt: als ein Mensch zu leben und andere trösten zu können und vor allem: Hoffnung zu stiften. Wie sagte es Pastor Kretzmann zum Schluss? "Mit der Dynamik des gegenseitigen Tröstens kommt das Leben zurück." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Amen.
26.03.2001: Morgenandacht in Hermannstadt (Text: Lätare, Reihe II)