[1] Vgl. Klaus Berger, Der Streit des guten und des bösen Engels um die Seele. Beobachtungen zu 4Q AMRb und Judas 9, in: Journal for the Study of Judaism, Vol. IV, No. 1, S. 1-18.
[2] Es wurde vermutet, daß die "Seelenwaage" Michaels die Waage des Gottes Thot im ägyptischen Totengericht zum Vorbild habe. Denn in der ägyptischen Hyksoszeit, von etwa 2000-1500 v. Chr., wurde das Totengericht als Wägung des Herzens, das heißt der Gesinnungen und Taten während des Erdenlebens, durch den Seelenrichter Thot - der ägyptischen Entsprechung zu Michael-Hermes - symbolisiert. In Ägypten erschienen die Mächte der Unterwelt als "Fresser der Toten" in Gestalt von Krokodilen, Löwen und Nilpferden, ähnlich wie die Symbolisierung der Unterwelt in den Höllenszenen der Mosaiken des Jüngsten Gerichts in Torcello. Nun ist aber eine solche Verbindung nicht nachweisbar. Außerdem liegen zwischen den literarischen und bildnerischen Darstellungen des ägyptischen Totengerichts und dem Aufkommen des gleichen Typus in der christlichen Ikonographie mehr als tausend Jahre. (Alfons Rosenberg, Engel und Dämonen, München 2. Aufl. 1986, S. 102)
[3] Wenn uns unser Herz verdammt, dann ist Gott größer als unser Herz und erkennt alle Dinge (1. Joh. 3,20). Vgl. auch den eindrucksvollen, Gerson zugeschriebenen Dialog zwischen dem Teufel und der Seele eines sterbenden Menschen, in: Peter Neher, Ars moriendi - Sterbebeistand durch Laien. Eine historisch-pastoraltheologische Analyse, St. Ottilien: EOS 1989, S. 201-202.
Engel als Seelengeleiter
von Alfons Rosenberg
Der Erzengel Michael führt - ein christlicher Hermes - den Menschen aus dem Leben und der Geschichte über die Todesschwelle in das verborgene Leben des Totenreichs. Der Mensch vermag dieses Zwischenreich, weil ihm die Erfahrung hierfür fehlt, nicht ungeleitet zu durchqueren. Er bedarf der Hilfe und der Führung. Das geht aus dem bis in die Frühzeit der Liturgie zurückreichenden Text der Totenmesse hervor. Dort werden in geheimnisvollen Worten die Gefahren aufgezählt, die den Menschen nach seinem Tode erwarten, aber auch die Hilfe, die Gott ihm durch Michael angedeihen läßt: "Herr Jesus Christus, König der Herrlichkeit, befreie die Seelen aller verstorbenen Gläubigen von den Peinen der Unterwelt; bewahre sie vor dem tiefen Wasser und vor dem Rachen des Löwen, damit der Abgrund sie nicht verschlinge und sie nicht in Finsternis hinabstürzen. Vielmehr geleite sie der Bannerträger Michael in das heilige Licht."
Es sind die Engel, an ihrer Spitze und stellvertretend für sie alle der Erzengel Michael, die auf Befehl Gottes sich der Toten annehmen und sie in das himmlische Heimatland geleiten - so weiß es ein Gebet des Begräbnisritus. Vorbei an den Abgründen der Unterwelt und am verschlingenden Drachenwasser, quer durch alle Finsternis hindurch. "In paradisum deducant te angeli; chorus angelorum te suscipiat - mögen dich (den Abgeschiedenen) die Engel zum Paradiese führen; der Chor der Engel nehme dich auf", so lauten die Sätze aus anderen Gebeten der Totenliturgie. Das Evangelium berichtet von den Engeln, welche die Seele des armen Lazarus in Abrahams Schoß tragen.
Schon im Sterben nehmen sich die Engel des Abscheidenden an und geleiten ihn nach dem Tode über viele Stufen und an vielen Gefahren und Anfechtungen vorbei immer tiefer in das lebenspendende, verklärende Licht hinein. Ohne diese michaelische Engelhilfe müßte - nach Überzeugung der alten Kirche - der Mensch im Tode dem Zugriff der Dämonen erliegen.
Oft genug müssen die Engel unter ihrem Anführer Michael um die ihnen anvertrauten Seelen kämpfen[1], die die Dämonen ihnen zu entreißen suchen. Denn gerade an der Schwelle zwischen dem diesseitigen zum jenseitigen Leben lauern die dunklen, seelenverschlingenden Gegenengel, die Scharen des Satans. Sie spannen - wie dies oft im Mittelalter dargestellt wurde - auf dem Weg der nach oben strebenden Seele ein Netz, um sie wie Vögel zu fangen, oder sie versuchen, sich wie Jäger der Seelen zu bemächtigen. Nach der frühchristlichen Schrift "Hirt des Hermas" wird der Mensch auf seinem Lebensweg von zwei Engeln begleitet, einem dunklen und einem hellen. Durch seine Sinnesart und seine Taten stärkt er die Macht des einen oder des andern. Derjenige, dem der Mensch durch sein Handeln Macht über sich eingeräumt hat, wird sich seiner nach dem Tode bemächtigen; dann fällt er entweder den Dämonen anheim und wird in die Finsternis geführt oder von Michael ins ewige Leben geleitet. Aber selbst dem mit Sünden beladenen Menschen steht Michael im Todeskampfe und nach dem Tod bei.
Vom 12. Jahrhundert an wird Michael mit einem neuen Attribut, mit der Seelenwaage, dargestellt. Mit ihr erscheint er wahrscheinlich zum ersten Mal auf den Mosaiken der Westwand des Domes der Venedig vorgelagerten Insel Torcello.[2] Das Bild der Waage taucht in der christlichen Literatur früher auf als in der bildenden Kunst. So beschreibt Philippus Solitantius das Treiben der Dämonen nach dem Tode in seiner Schrift "Dioptra" um 1096: "Die ruhelosen Dämonen werden mit Getöse herbeistürzen, werden deine Schuldscheine und deine Sünden haufenweise herbeischleppen. Geduldig werden die Engel sie alle auf der Waage wägen, aber die Teufel werden dem schon Vorhandenen noch Schwereres an Anklagen und Taten zuladen."
Die Anschauung oder innere Erfahrung, die in diesem Text zum Ausdruck kommt, wird vom 13. Jahrhundert an in zahllosen Bildern, Fresken und Mosaiken vielfach variiert dargestellt. Da sieht man in der einen Waagschale der von Michael gehaltenen Waage das Eidolon - die kleine, nackte Seelengestalt des Menschen -, in der andern die Symbole seiner Lebenstaten. Der Satan oder ein Dämon versucht heimtückischerweise, die Waagschale mit den Taten und Sünden herabzuziehen oder sie hinterrücks zu belasten, so daß der so "gewogene" Mensch im Gericht nicht zu bestehen vermag.[3] Michael bemerkt jedoch diesen Betrug und scheucht - sei es mit seinem Botenstab als Waffe, sei es mit dem Schwert - den zugleich anklagenden und betrügenden Teufel hinweg. So hält Michael im Tympanon der Kathedrale von Autun die bedrohte Waagschale mit beiden Händen fest; auf den Portalskulpturen von Paris und Fribourg suchen kleine Dämonen, welche sich an die Stränge und Schalen hängen, diese vergebens herabzuziehen. Die Gestalt Michaels mit der Seelenwaage wurde nördlich der Alpen öfter dargestellt als im Süden. Hier finden sich die berühmtesten älteren Beispiele im Dom von Torcello bei Venedig, im Fußbodenmosaik der Kathedrale von Otranto aus dem Jahre 1166 und auf einem Fresko aus dem Jahre 1216 an der Eingangswand von S. Lorenzo fuori le mura in Rom.
Die Anschauung von der engen Verbundenheit Michaels mit dem Totenreich wird auch durch die zahllosen Totenkapellen und Beinhäuser bezeugt, die ihm vor allem im Norden und im langobardischen Oberitalien geweiht sind. So besitzt die älteste deutsche Friedhofskapelle zu Fulda aus dem Jahr 822 ein Michaelspatrozinium. Zu den ältesten Pfarrkirchen des Erzengels auf deutschem Boden gehört jene zu Salzburg, "in porta urbis", die vom Stift St. Peter erbaut worden ist. Es gibt aber noch eine Fülle weiterer Zeugnisse dafür, daß Michael als Geleiter der Seelen auf ihrem Jenseitswege, als Totenführer und -richter nicht nur an Kirchenportalen und auf Weltgerichtsdarstellungen, sondern auch im religiösen Volksbewußtsein fortlebt. So wurde zum Beispiel im Mittelalter die Totenbahre vielfach als "St. Michaels Roß" bezeichnet, und vom Toten sagte man, er schlafe "St. Michaels Schlaf".
Auch die Türme der Kirchen und Kathedralen sind Michael - jedenfalls seit der Zeit der Romanik - zugeordnet. Bis in die Barockzeit hinein wurden hoch in den Türmen oder zwischen ihnen Michaelskapellen eingerichtet. Das turmbewehrte, stets Michael geweihte Westwerk der romanischen Dome enthält den Westchor, dem bei Kathedralen meist ein Ostchor entspricht. Grundsätzlich ist der Ostchor als der symbolische Ort des Aufganges des Lichtes und der Geburt dem Erzengel Gabriel, der Westchor jedoch dem herrscherlichen Wächter über der Welt, dem Erzengel Michael geweiht. Sinngemäß umschließt darum der Ostchor den Sitz des Bischofs als Repräsentant Christi, der Westchor aber den Sitz des die Kirche schützenden, von Michael geleiteten Kaisers. Von den Türmen des gewaltigen romanischen Westwerkes übt Michael sein Wächteramt aus, kämpfend gegen den von der symbolischen Richtung des Sonnenunterganges, der Nacht, herandringenden Satan. An der Grenze zwischen Tag und Nacht wacht Michael als lebendige Schranke gegen die Verderbnis, gegen Miasmen und Seuchen, gegen die Geistesverwirrung, die der Diabolus, "der Durcheinanderwerfer", in der Welt entfacht. Es ist darum sinngemäß, daß an der Mauer des Westwerkes der Klosterkirche zu Corvey Worte in den Stein gegraben sind, die in deutscher Übersetzung lauten: "Lagere dich um diese Stadt, Herr, laß deinen Engel ihre Mauern bewachen."
Aus: Alfons Rosenberg, Engel und Dämonen, München 2. Auflage 1986, S. 101-103.