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Der tote Tag (1912)

Aufführungsgeschichte:

gelesen: 1917 Berlin (Friedrich Kayssler)

uraufgeführt: 1919 Leipzig (Friedrich Märker)

inszeniert:

1923 Berlin (Paul Günther), 1924 München (Otto Falckenberg), Aachen (Heinz Dietrich Kenter), Wien (Albrecht Viktor Blum), 1925 Düsseldorf (Hermann Greid), 1926 Königsberg (Fritz Richard Werkhäuser),

1932 Hamburg (Kinner von Dresler),

1945 Hamburg (Rudolf Beiswanger), 1947 Bonn (Karlheinz Caspari),

1952 Schleswig (Horst Gnekow), 1959 Grömitz (Gastspiele in Eutin, Lübeck, Wunstorf, Worms, Köln, Ratzeburg) (Robert Ludwig/ Reinhold Netolitzky),

1963 Bremerhaven (Erich Thormann), Berlin (Peter Borchardt), 1964 Köln (Alexander Bernsau), 1965 Wien (Peter Schweiger),

1986 Bamberg (Peter-Christian Gerloff), 1989 Bochum (Wolf Redl),

1990 Berlin (Olaf Bodemühl), 1992 Parchim (André Hiller)

Inhalt:

"Als ich heimkehrte, konnte ich meinen Sohn sehen, und während ich am ersten Tonbilde arbeitete, machte ich mich an das Drama vom Toten Tag", schrieb Barlach nach seiner Heimkehr 1906 aus Russland. Das Verhältnis Vater-Sohn ist das zentrale Thema dieses Dramas Barlachs eigene Vaterschaft, sein verzweifelter und erfolgreicher Kampf um den "Besitz" des Sohnes veranlaßt ihn, diese Erfahrungen dramatisch zu verarbeiten.

Mutter und Sohn erhalten im Toten Tag keine Namen, sie bleiben "Mutter" und "Sohn". Der Vater ist als "Blinder Seher" zu erkennen, der das Geistige vertritt, den Sohn in die Welt nehmen möchte und somit dem Beharrenden der Mutter entreißen will. Dieser Kule erreicht im Drama sein Ziel nicht: Die Mutter tötet nicht nur das Ross "Herzhorn", das vielleicht den Sohn in die Welt bringen könnte. Sie tischt es sogar als Mahlzeit auf. Ihr Bekenntnis zu dieser Tat, verbunden mit eindringlichen Hinweisen auf ihre Mutterliebe, verzweifelten Forderungen in Bezug auf Sohnespflichten, vernichtet die Träume des Sohnes und ihn selbst. An diesem grauen, nebligen "toten" Tag nimmt er sich das Leben. Anders als in Barlachs Leben muß der Vater ohne den Sohn weiterleben.

Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 41.

In dem Drama Der Tote Tag thematisiert Barlach eine symbiotische Zweierbeziehung zwischen Mutter und Sohn, die von der Welt abgeschieden in einer Hütte leben. Ort und Zeit sind nicht näher bezeichnet, jedoch als mythische Zeit erkennbar: Außer der Mutter und dem Sohn wohnen in der Hütte die beiden Hausgeister Steißbart und Besenbein.

Die Position der Mutter, die ihre Macht gegenüber dem Sohn missbraucht und ihn in psychischer Abhängigkeit hält, wird jedoch durch den Besuch Kules, eines blinden Bettlers und Sehers, angefochten. Kule, der unerkannte und verschollene Vater ruft durch die Frage nach der väterlichen Herkunft zum ersten Mal die Männlichkeit seines Sohnes und das Anrecht auf eine individuelle Existenz in ihm wach. Als Zeichen der göttlichen, väterlichen Welt, die dem mütterlich-irdischen Dasein entgegensteht, verspricht er ihm sein Pferd Herzhorn, das er auf seiner Wanderung mit sich führt, und das den Sohn in eine neue Freiheit führen soll.

In seinen nächtlichen Träumen und Visionen findet der Sohn erstmalig zu seinem Vater und erkennt die geistige, transzendente Welt, die das väterliche und männliche Erbe mit sich bringt, sowie den Fluch der fleischlichen und mütterlichen Existenz. Die Mutter, die ihren Sohn aber weiter an sich binden will, und in dem Pferd einen Gegner sieht, ermordet das Pferd und serviert das Fleisch Steißbart, Besenbein und dem Sohn.

Am Morgen sucht der Sohn verzweifelt nach seinem Pferd, um aufzubrechen. Nach einer konfliktreichen Auseinandersetzung zwischen Mutter, Sohn und Kule, gibt die Mutter schließlich zu, das Pferd getötet zu haben. Anschließend nimmt sie sich in einem Akt von Verzweiflung das Leben. Der Sohn, der an die Mutter gebunden ist, kann den Verlust der Mutter nicht verschmerzen. Er ergreift ebenfalls das Messer und ersticht sich.

Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 196 f.

Kritische Würdigung:

Wenn ich der Kundgebung meines Vorsatzes, von zwei bizarren Theaterabenden, die hinter mir liegen, zu berichten, den Namen Ernst Barlach folgen lasse, so muß ich wohl auf ein höflich verwundertes Steigen der Augenbrauen gefaßt sein. Gewiß nicht, weil dieser Name in der Welt draußen ganz unbekannt wäre, - man kennt ihn sicher, man verbindet damit die Vorstellung gewisser plastischer Kunstwerke -, plastisch in der Tat in einem sehr reinen und echten Sinn dieses Wortes -, maserig-breitflächiger Holzskulpturen von großer Ausdruckskraft, russisch-christlich beeinflußt in ihrer Menschlichkeit, ihrer Leidens- und Bettlergebärde und unverwechselbar in ihrer Formensprache. Ein genialischer Bildhauer also, wir wissen. Es sollte jedoch von theatralischen Dingen die Rede sein? - Er hat sich also auf dem Gebiete der Ausstattung versucht? - Nein, weitergehend, auf dem des Dramas - und mit dem größten Glück, so möchte man hinzufügen, wenn man zu sagen wüßte, bei wem er mit dieser Eskapade Glück gemacht hat: beim Publikum jedenfalls nicht. Soweit es noch vorhanden war bei der Aufführung des Stückes, die ich sah, - es war die zweite - legte es durch seine Mienen, sein vielsagendes Schweigen, Gefühle an den Tag, die sich bei Wagner einmal in den Stabreim gekleidet finden: "Staunend versteh ich dich nicht!" Oder bei den Fachleuten, den Literaten, den Berufsdramatikern? Ich zweifele. Gar zu unkollegialisch sondert sich dieser Outsider mit seinem Stück von ihnen ab, - es steht tatsächlich außer aller Literatur, etwas Wildbürtiges, schwerfällig Urwüchsiges und Unzünftiges, etwas Unmodisches, ja Unzivilisiertes haftet ihm an, es ist ein Werk sui generis, ausgefallen und unmöglich, grundkühn und grundsonderbar, - das Stärkste und Eigentümlichste, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, was das jüngste Drama in Deutschland hervorgebracht hat.

Ich bereite mir Ungelegenheiten. Die Verpflichtung, durch eine Analyse dieses unnormalen Produktes die Neugier zu befriedigen, die ich mit vorstehender Charakteristik erregt haben mag, bedrückt mich sehr. Dieser Verpflichtung nachzukommen, ist so gut wie unmöglich. Man kann den Gefühlen symbolischer Ergriffenheit Ausdruckgeben, die dies merkwürdige Sprach- und Phantasiegebilde in seiner golemhaften, erdenschwer tappenden und blinden Undeutlichkeit erregt, aber man kann es nicht analysieren. Man kann seinen Titel nennen. Es heißt "Der tote Tag", - heißt so, weil darin ein Tag dämmert, der "tot zwischen Himmel und Erde hängt" und an dem "die Sonne finster zur Seite schaut", weil eine Freveltat geschah, ein ungeheures Unrecht, das Leibesverbrechen der Mutter, die ihrem Jungen, welcher halb Göttersohn, halb Muttersöhnchen ist, das vom Geist-Vater gesandte Roß tötet, damit es ihn nicht in die Zukunft trage und sie nicht zur Vergangenheit werde und zu einer leeren Wiege, die man zum Gerümpel wirft ... Fange ich an, mich mit meinem allzu verständigen Wort an dem schweren Geraun der Dichtung zu versuchen? Ich fahre nicht fort. Auch das wäre Frevel und Tötung. Ich deutete an, daß die Figuren des Stückes mythisch sind. Es sind die Mutter und der Sohn. Es sind ferner Gnomen und dienstbare Geister, ein unsichtbarer Knecht mit dem unflätigen Namen Steißbart, von dem man nur die Stimme hört und der wahrscheinlich ein in der Enge verkümmerter Bruder des Göttersohnes ist, - und ein Hausgeist namens Besenbein, der Besen statt der Füße hat und nachts durchs Haus schlurft, um es zu reinigen; der auch die Hufe des ermordeten Rosses stiehlt, um statt des Sohnes darauf davon zu sprengen ... Es sind ferner ein Alb, der zu seiner eigenen Qual die Menschen im Schlafe würgt, und ein noch bedeutungsvollerer alter Mann, der Kule heißt, ein Blinder am Stab, dessen Augen blind wurden von den Bildern der Welt, in dessen Nacht aber zuweilen "die schönen Gestalten der besseren Zukunft stehen, noch starr, aber von herrlicher Schönheit, noch schlafend - aber wer sie erweckte, der schüfe der Welt ein besseres Gesicht. Das wäre ein Held, der das könnte." Er trägt einen seufzenden Steinbrocken im Sacke mit sich, und er ist es, der in einem bestimmten Augenblick das fromme und tapfere Wort spricht: "Wer sich noch mit anderer Leid dazu belädt, der ist erst der wahre Mann."

Der Schauplatz der Handlung? Ein bäurischer, schwerbalkiger Küchenflur mit dunklen Bodenräumen und einem Keller darunter, in den das gemordete Roß versenkt wird, die mütterliche Liebesschuld, die macht, daß der Tag trüb und faul ist, nicht rückt und trägt, wie ein Roß vom Morgen zum Abend, sondern einem toten Rosse gleicht, das mit uns stürzte, und wir liegen unter ihm und wollen ersticken ... Die Beängstigungen der frühen Spiele Maeterlincks sind spielerisch im Vergleich mit der unraffinierten und volksliedhaften Macht, mit der dies dunkle Stück unseren Sinn in Traumfesseln schlägt. Bei einigen seiner demütigen und spirituellen Spruchsätze wäre man versucht, an Claudel zu denken, schämte man sich nicht angesichts seiner Einsamkeit jeder literarischen Reminiszenz. Wenn eine sprachliche Beeinflussung zu erspüren ist, so möchte sie vom "Zarathustra" herrühren, - obgleich Barlachs Diktion weit deutscher, volksmärchenhaft knorriger und einfältiger ist, als die orientalisierende Pathetik, Antithetik und witzelnde Gedankenreimerei jenes Vorbildes. Man erhält eine Vorstellung von seinem Sprachstil - und zugleich von seiner heroischen Verachtung alles geistigen Idylls -, wenn man die Aufforderung liest, die der beraubte "Sohn" an seinen Gnomenbruder Steißbart richtet: "Sei munter dagegen, laß uns deiner Rede Böcklein tanzen. Rupf dir das grüne Blättlein Schnurrigkeit und laß dabei deines Geschmäckleins Lustmeckern klingen."

Die Münchner Kammerspiele hatten den schönen Mut, dies Trauerspiel vom Menschen, dem heldischen Geistsohn, der ewig ein Muttersöhnchen der eifersüchtig klammernden Erde bleiben wird, auf die Bühne zu bringen. Die Aufführung war vorzüglich. Sie konnte ein- oder zweimal wiederholt werden; dann blieb das Publikum aus. Das ist begreiflich, denn die stundenlange Konzentration auf das Raunend-Halbdeutliche ist keine jedermann genehme Abendunterhaltung. Aber es gibt zu grübeln über das Verhältnis von hoher Dichtung und Popularität. Falsch zu sagen, daß Barlachs Stück nicht bühnenfähig wäre. Es hat kraftvoll typisierte, gestaltenpackende Situationen, eine kernige, durchaus dramatische Sprache. Falsch zu sagen, daß es bei aller Sonderbarkeit eigentlich befremdete. Es ist im Innersten deutsch und heimlich, wie ein Lied aus "des Knaben Wunderhorn", märchenvertraut in seinen Motiven dem nationalen Sinn, - es ist volkstümlich. Aber es ist nicht populär, - denn diese Eigenschaft ist offenbar von jener ganz unabhängig und trifft in unserer Sphäre kaum je mit ihr zusammen. Volkstümlich im höchsten Sinn - und zwar ohne jede romantisch-bourgeoise Velleität, wie sie etwa der Volkstümlichkeit von Wagners "Ring" anhaftet - ist der erste Teil des "Faust"; aber dies Stück populär zu nennen wäre gewagt, und jedenfalls ist es das bei weitem nicht in dem Grade wie etwa der "Wilhelm Tell" jenes Schiller, auf den der Begriff der Volkstümlichkeit durchaus nicht paßt, den Fontane einmal einen "Halbfremden" nannte und dessen Theater wirklich mit dem französischen Grand siècle mehr als mit deutschen Dingen zu schaffen hat. Ist Kultur möglich in Ländern oder in Zeiten, wo das Volkstümliche keine Popularitätsmöglichkeit besitzt? Und warum besitzt es keine? Weil es kein Volk mehr gibt, sondern nur noch Pöbel und Publikum? Denn ich müßte ganz und gar irren, wenn Barlachs Drama nicht wahre Volksdichtung wäre, tiefwurzelnd im Heimlichen und hoch rauschend mit seinen Wipfeln im Geistigen, - ein Mutterkind, welches, wie es schließlich im Text heißt, "sein bestes Blut von einem unsichtbaren Vater hat."

Thomas Mann, Theaterbrief zu der Münchener Aufführung "Der tote Tag" von Ernst Barlach, 1924; in: Hans Harmsen (Hg.), Ernst Barlach Gesellschaft e. V. Den Mitgliedern und Freunden zur Jahreswende 1979/1980, S. 77-80.