Die herausgeschriene Wahrheit
Und sogleich war auch in ihrer Synagoge ein Mensch, besessen von einem unsauberen Geist; der schrie und sprach: Was willst du von uns, Jesus von Nazareth? Du bist gekommen, uns zu verderben. Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes (Markus 1,23-24).
Manchmal geschieht es, dass einer nicht mehr anders kann, als all das herauszuschreien, was er so lange in sich unterdrückt hat. Außenstehende mag das erschrecken. Für den Betroffenen selber ist das eine Befreiung. Es sei denn, die Gewalt des Angestauten ist so groß, dass sie einen selbst mit ins Verderben zieht. Es kann also durchaus sein, dass wir als Eltern und Erzieher in solchen dramatischen Krisensituationen intervenieren müssen, damit kein Unheil geschieht. Aber sonst ist es wohl gut, wenn endlich die Wahrheit herauskommt.
Wenn Kinder ganz ungeschützt die Wahrheit sagen, hat das für Erwachsene oft eine verblüffende Wirkung: sie begegnen sich selber, all den unangenehmen und verdrängten Eigenschaften, die wir am liebsten vor uns selber verbergen wollen. Aber: "Kindermund tut Wahrheit kund." Kinder spüren sehr genau, wo unsere Schwächen liegen und machen sich oft einen Spaß daraus, gerade sie immer wieder ins Spiel zu bringen. Das stellt "Waffengleichheit" her in den so ungleichen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Erwachsene üben sehr oft Druck aus, setzen sich durch mit ihren Interessen, sind die Stärkeren, wenn es darauf ankommt. Kinder fühlen sich sehr oft unterlegen, und deshalb tut es ihnen gut, wenn sie Schwächen spüren und gegen die Großen ausspielen können.
Wir sollten diesen Dienst der Kinder an unserer ?Ganzheit? annehmen und offen werden für unsere heimlichen und verborgenen Schwächen. Und wir sollten uns mehr als einmal fragen, ob unsere Kinder nicht längst zu Trägem all der unbegriffenen und unterdrückten Kräfte in uns selber geworden sind. Irgendwo muss es ja mal herauskommen - und es geschieht meistens im schwächsten Glied der Kette, die mühsam ein bestimmtes Bild von uns selber aufrechterhält.
Wenn Kinder schreien und toben, dann ist es nicht immer deren "Bosheit", der wir da begegnen, sondern uns selbst, all den abgespaltenen Gefühlen, die wir auf sie abgeladen und übertragen haben. Deshalb dient wohl nichts mehr der Gesundheit der Kinder, als wenn wir Erwachsene, die wir mit ihnen umgehen, uns bewußt sind über die Kräfte in uns selber. Wer weiß, was alles in ihm steckt, wird großzügiger sein und gütig. Der kann vergeben, weil er selbst auf Vergebung angewiesen ist.