Dem Neuen entgegenfiebern
Und sie gingen alsbald aus der Synagoge in das Haus des Simon und Andreas mit Jakobus und Johannes. Und die Schwiegermutter Simons lag und hatte Fieber; und alsbald sagten sie ihm von ihr. Und er trat zu ihr und faßte sie bei der Hand und richtete sie auf: und das Fieber verließ sie, und sie diente ihnen (Markus 1,29-31).
Eltern von Kindern wissen, wie sehr oft Fieber die entscheidenden Entwicklungsschritte ihrer Kinder begleitet. Das hat seinen Grund darin, dass das Neue und Befruchtende eines künftigen Lebensabschnittes nicht gleich in das Bewußtsein integriert werden kann, sondern zunächst auf einer körperlichen Ebene bearbeitet werden muss. Ehe wir verstehen und an uns heranlassen können, wehren wir zunächst ab. Und doch erregt und entzündet uns das Neue, bis wir es ohne Angst an uns heranlassen können und aus der Begegnung mit ihm neue Kräfte gewinnen. Kinderkrankheiten sind oft mit Fieber und entzündlichen Prozessen verbunden. Sie enthalten eine tiefe Wahrheit über unser Leben: es bedarf der inneren Auseinandersetzungen mit dem Neuen, ehe wir es an uns heranlassen können und als ein Stück von uns selber begreifen. Am Ende dieser Auseinandersetzung steht eine neue Kraft, die wir erworben haben, weil wir den Konflikt, die Begegnung mit dem Neuen, nicht gescheut haben.
In der biblischen Geschichte von der Heilung der Schwiegermutter des Petrus handelt es sich auch um so ein Fieber, das der Begegnung mit dem Neuen vorangeht. Es enthält Abwehr und Erwartung zugleich. Auf beides reagieren die nächsten Angehörigen in der Umgebung: sie schirmen ab und muten zu zugleich. Ich stelle mir vor, dass die Schwiegermutter des Petrus in einem dunklen Raum gelegen hat, geschützt vor den Anstrengungen des Alltags, konzentriert auf das, was ihr in der Krankheit begegnen würde. Und er kommt, dem sie entgegenfiebert, faßt sie an und richtet sie auf. Jesus tut hier gar nichts Besonderes, er spielt die Rolle des Neuen, er mutet sich der Kranken zu, er nimmt keine falsche Rücksicht.
Ist es nicht vorstellbar, dass diese Geschichte auch ganz anders hätte ausgehen können? Was wäre geschehen, wenn die Angehörigen niemanden zu ihr gelassen hätten, weil sie ja krank war? Wenn Jesus es abgelehnt hätte, zu ihr zu gehen, aus Rücksicht auf ihre Schwäche und ihren bedenklichen Zustand? Das Fieber wäre unbegriffen geblieben, hätte sich im Körper ausgetobt mit ungewissem Ausgang, jedenfalls hätte es nicht verstanden werden können als das, was es war: eine gespannte Erwartung des Neuen, die aus der körperlichen Ebene erlöst werden musste, um hinaufzugelangen in das Bewußtsein. Die Schwiegermutter des Petrus ist dem Neuen, ist Jesus begegnet und gewinnt daraus neue Kraft, zu leben und zu dienen. Sie war bis aufs äußerste gespannt, hat sich gewehrt, mit körperlicher Erregung und Abwehr reagiert, aber nun hat sie den Konflikt bestanden, das Neue, den Neuen an sich herangelassen und ist selber dabei ein Stück weit gewachsen in Richtung auf Ganzheit und Heil.
Wenn ich diese Geschichte so beschreibe und verstehe, dann fällt mir ein, wie konfliktfeindlich eigentlich unsere Gesellschaft ist, im großen wie im kleinen. Wenn Kinder Fieber bekommen, reagieren wir sehr schnell mit Zäpfchen und Tabletten und dämpfen den Konflikt, aus dem doch eine neue Fähigkeit und Stärke erwachsen soll. Gewiß, es gibt lebensbedrohliche Grenzen, die sollen nicht ohne weiteres überschritten werden, vor denen wollen wir unsere Kinder und auch uns selber schützen. Aber riskieren wir es in dem weiten Feld davor, dass aus Krisen und Konflikten auch gelernt werden kann, oder betrügen wir uns selbst und unsere Kinder vor den Erträgen solcher notwendigen Auseinandersetzungen mit frühzeitiger Dämpfung und Vermeidung? Ich habe aus der Geschichte der Heilung der Schwiegermutter des Petrus gelernt, wie fruchtbar das "Fieber" eines Konfliktes sein kann. Sonst begegnet uns das Neue nie. Haben wir den Mut, uns zu öffnen, Konflikte auszuhalten, Streit miteinander auszutragen, damit wir uns wandeln und neu werden!