Gemeindebrief St. Petri, Ausgabe Februar-März 2006:

Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. (Jesaja 60,2)

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie harmlos klingen eigentlich die Worte, die wir hin und wieder zu Beginn unseres Gottesdienstes als Sündenbekenntnis sprechen – verglichen mit dem verzweifelten Aufschrei der Judäer im Bewusstsein ihrer Schuld! So lesen wir im 59. Kapitel des Jesaja-Buches: „Wir harren auf Licht, doch es ist finster ... Wir tappen wie die, die keine Augen haben, wir tasten im Düstern wie die Toten ... Denn wir sind zu oft von dir abgefallen, und unsere Sünden zeugen gegen uns ...“ (Verse 9, 10 und 12).

Diese wenigen eindrucksvollen Sätze sind nur ein kurzer Ausschnitt aus einem tief bewegenden Geständnis. Man möchte allen in Kirchen und Synagogen zurufen: Lest bitte das Ganze! Lest wieder einmal dieses 59. Kapitel bei Jesaja, ehe ihr euch daran macht, den Wochenspruch für den letzten Sonntag nach Epiphanias, der das Leitwort für diese Besinnung darstellt, in euch aufzunehmen.

Seht, wie Gott reagiert, wenn ein Mensch, nein, ein ganzes Volk seine Schuld bereut! Lest diese aufregenden Geschichten Gottes mit seinen Menschen! Wie ein ewiger Wellenschlag wiederholt sich das eine Thema: Der irrende Mensch – der zürnende Gott, der reuige Mensch – der vergebende Gott. Immer ist Gottes Gnade unter seinem Zorn verborgen.

Auf das Eingeständnis der Schuld antwortet Gott hier bei Jesaja mit der Verheißung einer Lichtfülle, die alles Bekannte sprengt – allen Reichtum der Erde, alle Freiheit der Völker, alle Schönheit der Natur. Die Worte „Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir“ sind nur der Auftakt zu einem Feuerwerk göttlicher Gnade, in deren Licht Sonne und Mond verblassen und alle Leiden enden sollen.

Spätestens hier stehen nun aber die Skeptiker auf und fordern Beweise für solche Behauptungen, die schließlich nur ein einfacher Mensch, ein Prophet freilich, verkündet hat.

Wie aber sonst sollte Gott zu uns reden? Hat Jesus etwa im Donnergrollen gesprochen? Eine menschlichere Stimme als seine hat es nie gegeben, und doch war er selber Gottes Wort! Den Propheten legte Gott die Worte in den Mund, dass sie seinen Willen und seine Wunder deuteten. Und wundervoller als in den Jesajaschriften ist nirgendwo davon zu lesen, obgleich die „Herrlichkeit des Herrn“ niemand erdenken noch erdichten kann.

Einigen Menschen war es allerdings auch in unserer Zeit vergönnt, eine Spur davon zu erahnen – keinen dichtenden Propheten, eher abenteuernden Technikern, erzogen in der kühlen Luft der Naturwissenschaft. Einer von ihnen rief, als er aus seiner Weltraumkapsel zum ersten Mal unsere bunt glänzende Erde in der Finsternis schweben sah: „Hier muss Gott gewesen sein, ehe er diese Welt erschaffen hat. So, wie ich sie jetzt sehe, muss ER sie gesehen haben ... Sie ist zu schön, um zufällig entstanden zu sein ...“ Dieses Licht ist einem Menschen aufgegangen, der unterwegs war zum Mond, und es ist immerhin ein Funke aus der Herrlichkeit, wenn jemand erkennt, dass alles uns zufällt von Gott.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Passionszeit, in der Sie etwas von dem großartigen Epiphanias-Licht mit hineinnehmen in die Dunkelheiten menschlich-göttlicher Passion. Es ist ja nicht die Finsternis des Karfreitags, die das letzte Wort behält, sondern das Licht des Ostermorgens – trotz all unserer Schuld und all unseres Versagens. Denn das leuchtet über uns allen: „Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir“ (Jesaja 60,2).

Ihr Propst Peter Godzik