Ansprache am Volkstrauertag 1999

gehalten von Propst Peter Godzik

Sehr geehrter Herr Landrat! Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Meine Damen und Herren!

In diesem Jahr erinnern wir uns wieder an große Ereignisse, die die Weltgeschichte geprägt und unser Leben verändert haben. Allermeist waren sie mit großen Schmerzen und viel Leid verbunden. Wir dürfen uns aber auch an glückliche Wendungen erinnern, die uns Frieden, Wohlstand und neue Einheit geschenkt haben.

Es ist jetzt 60 Jahre her, daß nach der Katastrophe des Ersten der noch furchtbarere Zweite Weltkrieg begann mit Abermillionen Toten und Verwundeten, mit Zerstörung, Verwüstung und Vertreibung. Am Ende dieses Zweiten Weltkrieges öffnete die Atom-bombe das Tor zu neuen, schrecklichen Formen der Vernichtung.

Zugleich wurde in dieser Zeit der verbrecherische Versuch unternommen, das jüdische Volk auszurotten, zusammen mit anderen als lebensunwert angesehenen Menschen. So verbindet sich die tiefe Trauer um unsere Kriegstoten für immer mit dem Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, besonders an die Millionen Ermorderter des jüdischen Volkes.

Vor 50 Jahren wurde für unser Land die Verabschiedung des Grundgesetzes die entscheidende Wende zu einem neuen demokratischen Selbstverständnis. Der Fall der Mauer vor 10 Jahren und der Prozeß der Wiedervereinigung bezog auch die mit ein, denen 1949 die Mitwirkung bei der Gestaltung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens versagt blieb.

Zu den Grundlagen unserer Verfassung gehört wesentlich, daß mit dem Menschsein ein Würde- und Rechtstitel gegeben ist, den zu schützen in der Verantwortung vor Gott und den Menschen vornehmste Aufgabe des Staates ist. In besonderer Weise scheint unser Jahrhundert, das jetzt zu Ende geht, durch die Versuchung bedroht zu sein, diese Bindung an Gott zu lösen und damit einen letztlich unserer Verfügung entzogenen Maßstab von Recht und Gerechtigkeit zum Schutz des Menschen und zur Abwehr des Mißbrauchs seiner Würde preiszugeben.

Nicht zuletzt die blutigen Ereignisse im Südosten Europas in diesem Jahr zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind auch deutsche Soldaten mit einbezogen müssen uns alle zu einer tiefgreifenden Neubesinnung auf die tragenden Wurzeln der europäischen Rechtskultur veranlassen.

An der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend blicken wir auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, die die Kirchen an diesem Datum feiern. Christlicher Glaube lädt dazu ein, daß Jesus Christus in seiner Person für alle Menschen ein Zeichen der Überwindung von Ungerechtigkeit und Gewalt, der Erlösung aus Schuld und Tod werden kann.

Christlicher Glaube führt auch zu der Überzeugung, daß der Einsatz für den Frieden unsere tiefste menschliche Verpflichtung ist. Den Lebens- und Gestaltungsweg der Menschen in eine friedliche Richtung zu lenken, war nicht nur Verantwortung und Verpflichtung der Generationen, die den Krieg miterlebt haben sie trifft im selben Maße auch diejenigen, die jetzt politische Entscheidungen treffen und das Gemeinwesen mitgestalten.

So wie die Erfahrung des vergangenen Krieges wichtig war für die, die ihn überlebten und daraus das tragende Motiv zum Aufbau einer stabilen Ordnung des Friedens gewannen, so besteht die Verpflichtung und Verantwortung der jetzigen mittleren Generation darin, die langjährige Erfahrung des Friedens als zentrales Motiv dafür zu achten, das Friedens- und Aufbauwerk der Nachkriegsgeneration anzunehmen und fortzuführen.

Wer den Krieg nicht kennt, weiß den Frieden nicht zu schätzen, hat einmal ein älterer Mensch zu mir gesagt. Ich glaube und hoffe nicht, daß er damit recht hat. Aber daß die Gefahr immer größer wird, daß der Frieden, je länger er währt, als selbstverständlich gilt, als ein Zustand, um den man sich nicht mehr besonders bemühen muß, das sehe ich wohl. Dieser Gefahr zu begegnen, gibt es vielfältige Möglichkeiten. Erziehung und Bildung in Schule und Kirche sind von zentraler Bedeutung, die Begegnung der Jugendlichen untereinander, die verantwortlich gehandhabte Rolle der Medien, ein von den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern der verschiedenen Nationen zu spinnendes Netz internationaler Sicherungssysteme und vieles mehr.

Aber auch dieser Tag, der Volkstrauertag, gehört dazu. Nicht derjenige, der den Krieg nicht kennt, vermag den Frieden nicht zu schätzen, sondern derjenige, der ihn vergißt, verdrängt, der die Kriege und Konflikte der Vergangenheit und die aktuell stattfindenden nicht wahrnimmt, der läuft Gefahr, den Frieden nicht zu schätzen. Deshalb will ich mit meinen Worten auch ein Bekenntnis zum Erhalt und zum Respekt vor dem Volkstrauertag ablegen. Auch wenn eines Tages alle, die den letzten Krieg erlebt haben, nicht mehr sein werden, soll es den Volkstrauertag noch geben.

Nehmen wir ernst und als Vermächtnis, was die Toten aus zwei schrecklichen Weltkriegen uns mit auf den Weg gegeben haben. Und wenn es nur dies wäre, ihre Mahnung zum Frieden, so hätte ihr Opfer einen Sinn gehabt. Fahren wir fort, die Gräber der Kriegstoten zu pflegen, auch wenn bald kaum einer noch einen von ihnen gekannt haben wird: Den Toten zur Ehre, den Lebenden zu Mahnung, auf daß wir den Frieden schätzen lernen und wir unseren Weg in seine Richtung lenken.

In dem Gebet eines Jugendlichen von Diethard Zils heißt es:

Um Umschulung bitten wir,

um Kenntnisse, die wirklich dem Leben dienen,

um Fähigkeit zur Handarbeit für den Frieden.

Darum bitten wir um ein neues Gefühl für die Sprache

im Hören auf Unterdrückte und Minderheiten.

Daß wir ein scharfes Gehör entwickeln für die Sprache von Propheten und Befreiern.

Daß wir tief getroffen und wesentlich verändert werden

durch den Notruf der Machtlosen, durch den stillen Protest aller Sprachlosen.

Um ein neues Verständnis von Geschichte bitten wir.

Daß wir sie betrachten aus dem Blickpunkt der Verlierer,

nicht aus der Perspektive der Sieger;

aus der Sicht der Sklaven, nicht aus dem Blickpunkt der Herren.

Um ein neues Verständnis von Erdkunde bitten wir.

Daß wir die Orte des Unrechts kennen.

Daß wir wissen, wo heute Ägypten liegt

und wo die Sklaven des jetzigen Pharaos wohnen.

Um eine neue Naturkunde bitten wir.

Daß wir uns entscheiden zwischen Schöpfung und Zerstörung.

Daß wir die Lagerstätten des Todes entlarven

und unsern Kampf für eine menschenwürdige Umwelt nicht aufgeben.

Um eine neue Methode des Rechnens bitten wir.

Daß wir uns üben im Malnehmen durch Teilen.

Daß ausgerechnet das Zeichen des Brechens und Teilens

das Zeichen des Überlebens wird.

So denken wir heute .... (Text der Totenehrung)