Rede zum Volkstrauertag 2005

gehalten von Propst Peter Godzik

Sehr geehrter Herr Kreispräsident,

sehr geehrter Herr Landrat,

sehr geehrter Herr Bürgervorsteher,

sehr geehrter Herr Bürgermeister,

meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürger!

Der Monat November erinnert uns mehr als jede andere Zeit des Jahres an das irdische Vergehen. Wir richten unsere Gefühle und Gedanken in besonderem Maße in die Vergangenheit. Wir halten Zwiesprache mit allen, die einmal vor uns und mit uns gelebt und die wir nicht vergessen haben.

Die Toten sterben, wenn sie vergessen werden, zum zweiten Mal. Und das wollen wir nicht! Sie haben einen bleibenden Platz in unseren Herzen!

In diese sehr persönliche Besinnung eingebettet ist auch das gemeinschaftliche Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, zu dem wir uns in jedem Jahr am Volkstrauertag zusammenfinden.

In seiner Gedenkrede zum ersten allgemeinen Volkstrauertag am 5. März 1922 im Deutschen Reichstag sagte der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe u.a.: „ein Volk, das seine Toten ehrt, ehrt sich selbst und … wird daraus die Kraft schöpfen …, den Weg zu neuem Leben, zum hellen Tage zu suchen. Ein Volk, das seine Toten ehrt, wird … ein gemeinsames Band schlingen um viele Seelen, denen dasselbe Leid widerfuhr, und wird dieses Band auch ausdehnen auf die Mütter an der Wolga und am Tiber, deren Schmerz um den nicht mehr heimgekehrten Sohn nicht minder ins Herz sich fraß als der Mutter an der Donau und am Rhein …“.

Dennoch stellt sich die Frage: Warum auch heute noch ein Volkstrauertag? Würden nicht die allgemeinen kirchlichen Totengedenktage „Allerseelen“ und „Totensonntag“ genügen? Welchen Sinn hat ein solcher Tag des gemeinschaftlichen Gedenkens?

Man wird es den wenigen unter uns verbliebenen Teilnehmern des Krieges nicht verdenken, wenn sie insbesondere ihrer vielen gefallenen Freunde und Kameraden in besonderer Weise gedenken möchten. Sie waren junge, hoffnungsvolle Menschen, jeder ein liebender und geliebter Teil seiner Familie, jeder ein Mensch in seiner Einmaligkeit, Menschen mit dem gleichen Recht auf Leben und persönlicher Lebenserfüllung wie die, die überlebt haben, und wie wir, die wir seitdem nachgewachsen sind. Sie haben das Leben, von dem sie träumten, nicht leben dürfen.

Die Angehörigen der Kriegsgeneration, einer in mancher Hinsicht missbrauchten Generation, haben auf den Schlachtfeldern und in der von Bomben, Zerstörung und Vertreibung heimgesuchten Heimat unendlich viele Beispiele von persönlicher Tapferkeit, Leidensfähigkeit und menschlicher Größe erlebt.

Aber, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, um nicht missverstanden zu werden: Der Volkstrauertag ist kein Tag der bloßen Heldenverehrung mehr. Die nach früheren Kriegen errichteten Denkmäler mit ihrer manchmal pathetisch überhöhten Heldenverehrung des Soldatentodes verdienen als zeitgebundene Monumente wohl unseren Respekt, aber viele von ihnen entsprechen nicht mehr unserem heutigen Lebensgefühl. Angesichts der beiden furchtbarsten Kriege, die die Weltgeschichte bisher erlebt hat, stehen andere Gefühle und Gedanken im Vordergrund, ist die Sinnfrage anders gestellt.

Erinnern wir uns: Vor 91 Jahren begann der Erste Weltkrieg. In den kriegführenden Ländern waren über 10 Millionen Tote zu beklagen, über 21 Millionen wurden zu Kriegs­beschädigten. Vor 66 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Die unfassbare Bilanz dieses mörderischsten aller Kriege und einer menschenverachtenden Gewaltherrschaft: Über 55 Millionen Tote und fast 35 Millionen Kriegsversehrte.

Aber was bedeuten diese nüchternen Zahlen? Können Zahlen überhaupt etwas aussagen über die dahinter stehenden Schicksale der Betroffenen? Was berühren uns die Toten vergangener Jahre, die vernarbten Wunden, das vor Jahrzehnten erlittene und hinterlassene Leid? Sollten wir, die Überlebenden und die Nachgeborenen, es uns nicht einfacher machen und die belastenden Erinnerungen verdrängen? Und was geht das alles die nachfolgenden Generationen an?

Die Fähigkeit und Bereitschaft, um die geliebten Toten zu trauern, auch zur kollektiven Trauer in der Lebens- und Schicksalsgemeinschaft eines Volkes, ist ein untrennbarer Teil der Würde des Menschen. Dazu gehört auch die Trauer um die, die wir nicht persönlich kennen, und auch die Trauer um die Opfer, die ehemalige Kriegsgegner bringen mussten.

Grenzüberschreitende Trauer ist die Kraft, die ehemalige Feinde versöhnt und verbindet. In der wunderbaren Wiedereinweihung der durch Bombenangriffe zerstörten Frauenkirche in Dresden ist das vor kurzem sinnenfällig zum Ausdruck gekommen: Versöhnung kann, ja muss von uns gelebt werden.

Und aus der Trauer erwächst eine bleibende Verpflichtung für die Lebenden. Die gefallenen und vermissten Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft Verstorbenen, die im Bombenkrieg Getöteten, die bei Flucht und Vertreibung den Tod fanden, die im Widerstand oder als Opfer eines menschenverachtenden Regimes ihr Leben lassen mussten, die Opfer der Verfolgung aus politischen, religiösen und rassischen Gründen, gleich wo sie gekämpft oder gelitten haben, sie verpflichten uns, in der Gegenwart und Zukunft dafür zu wirken, dass wir nicht gegeneinander sterben, sondern miteinander leben.

Ohne die Erinnerung an schreckliche Irrwege der Vergangenheit gibt es keine Versöhnung und keine gemeinsame friedliche Zukunft. Wir alle, auch wer nicht in individueller Schuld steht, sei es, dass er auch in einer verführten Welt immer menschlichen Anstand bewahrt hat, sei es, dass er einer nachgeborenen Generation angehört, wir alle bleiben dicht eingebunden in eine kollektive Mitverantwortung für Geschehenes und Zukünftiges.

Wir wissen: Hass, Grausamkeiten und Unterdrückung hat es zu allen Zeiten und überall

gegeben und gibt es auch heute vielfältig in der Welt. Die Menschennatur ist nicht nur zu edlen Taten, sondern auch zu Untaten fähig. Und aus leidvoller und immer neuer Erfahrung wissen wir, zu welchen Greueltaten verführte und fanatisierte Menschen auch heute noch fähig sind.

Seit 1945 hat es in der uns umgebenden Welt bereits mehr als 160 neue Kriege gegeben. Bald wird die Zahl der Opfer des Zweiten Weltkrieges überstiegen sein. Dabei ist Krieg eigentlich die Bankrotterklärung der Politik, Gewalt nur möglich, wo Freiheit und Menschenwürde nicht als oberstes Gesetz des menschlichen Zusammenlebens gelten. Und doch ist es manchmal nötig, auch mit Soldaten und Waffen für den Frieden, für die Freiheit und für die Menschenwürde einzutreten. Das haben deutsche Politiker und deutsche Soldaten auf dem Balkan und in Afghanistan gelernt. Der Missbrauch des Soldatentums in vergangenen Kriegen hebt den rechten Gebrauch nicht auf. Uns Menschen ist der Frieden des Paradieses noch nicht geschenkt, moralische Vollkommenheit ist in dieser Welt nicht zu erreichen.

Es gibt Zeichen der Hoffnung. Dennoch, wir bleiben gefährdet. Wenn es ein Vermächtnis der Toten an die Lebenden gibt, dann dies: Die Herstellung, Bewahrung und Verteidigung des Friedens ist die höchste Kunst der Politik. Menschenwürdiges Leben ist nur in Frieden und Freiheit möglich. Dem dienen auch die bewaffneten Streitkräfte der demokratisch geführten Nationen. Sie verteidigen Rechte, schützen Leben und bauen gerechte Lebensverhältnisse wieder auf.

Dies ist unsere bleibende Aufgabe: heute, morgen und übermorgen. Erst recht in diesem Jahr, das weltweit zum „Jahr der Versöhnung“ erklärt wurde. Lasst uns dankbar sein für jeden gerechten Frieden, der gehalten oder wiederhergestellt werden kann, und für die Menschen, dieser Aufgabe auch unter Einsatz ihres Lebens dienen!

Und so verneigen wir uns heute vor den Toten der beiden Weltkriege und gedenken der Opfer aller Gewalttat:

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg,

Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,

der Menschen, die durch Kriegshandlungen

oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden,

weil sie einem anderen Volk angehörten,

einer anderen Rasse zugerechnet wurden

oder deren Leben wegen einer Krankheit oder

wegen einer Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand

gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden, weil sie an

ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege

unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus

und politischer Verfolgung.

Wir gedenken heute auch derer,

die bei uns durch Hass und Gewalt gegen

Fremde und Schwache Opfer geworden sind.

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid

tragen um die Toten. Aber unser Leben steht

im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

unter den Menschen und Völkern, und

unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter

den Menschen zu Hause und in der Welt.