Zwillinge

 

Rebekka wusste es von Anfang an: Die Verheißung lag auf Jakob, dem Zweitgeborenen, nicht auf Esau, der als erster das Licht der Welt erblickt hatte. Aber wie sollte sie dafür den Segen des Alten bekommen? Sie kochte, wie Isaak es gern hatte, und sie kleidete den Jüngeren in das Gewand des Älteren. Ja, sie tarnte seine glatte Haut in das raue Fell des Erwarteten und konnte so den Segen gewinnen – für Gottes lebendigmachende Verheißung, gegen die überkommenen Traditionen der Menschen (1. Mose 27,1-29).

List oder gar Betrug? Manchmal muss sich das Neue in das Gewand des Alten kleiden, um Anerkennung zu finden. Die nackte Wahrheit ist für viele nur schwer zu verkraften. Gottes Liebe kleidet sich deshalb in ungewöhnliche Gewänder, um Aufnahme zu finden bei den Menschen. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns ... und die Finsternis hat’s nicht ergriffen ... und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Johannes 1,5.14).

Entscheidungen sind fällig, Mut ist gefragt, neue Wege müssen gegangen werden. Der Preis ist hoch: Jakob flieht, schaut, dient; wird reich, flieht erneut, verträgt sich; rüstet sich, kämpft um seine Identität, versöhnt sich; siedelt sich an, wird gesegnet und kehrt heim. Was für ein Leben! Und am Ende? Beide Söhne begraben den Vater, auch Esau als ein Gesegneter: „Siehe, du wirst wohnen ohne Fettigkeit der Erde und ohne Tau des Himmels von oben her. Von deinem Schwerte wirst du dich nähren, und deinem Bruder sollst du dienen. Aber es wird geschehen, dass du einmal sein Joch von deinem Halse reißen wirst“ (1. Mose 27,39-40).

Weniger begabt, aber doch gesegnet und am Ende frei. Es ist nicht leicht, ein Zwilling zu sein, sich messen lassen zu müssen am anderen, um die eigene Identität zu ringen und immer einen Rivalen an der Seite zu haben. Aber am Ende ist Platz für beide, Raum zum Leben mit allem, was sie haben und sind. Und das Wichtigste? Gnade zu finden in den Augen des anderen (1. Mose 32,6)!

Es gibt so viele Geschwister und Zwillinge auf der Welt, die diese Geschichte brauchen: eine Geschichte der „List Gottes“, Verheißungen wahr werden zulassen gegen alle gewöhnlichen Bestrebungen der Menschen und Platz darin zu schaffen für Versöhnung und Frieden. Mögen diejenigen sie lesen und verstehen, die einander bekriegen und nach dem Leben trachten, statt unter Gottes Segen das Empfangene zu leben und zu gestalten!

 

Propst Peter Godzik