Wort zum Sonntag 03.09.2000

Unter Druck gesetzt

Als Christen setzen wir uns selbst oder andere manchmal ganz schön unter Druck: "Ohne Umweltschutz nur ein halber Christ!" stand neulich in der Zeitung. Das war sicher nicht negativ gemeint, aber hinter einem solchen Satz steht eben doch die Frage, wer ein ganzer, wer ein guter Christ ist.
Da hat jemand zu wenig Zeit für einen anderen Menschen, der im Altenheim oder im Krankenhaus auf Besuch wartet. Als Christ müßte man eigentlich ... Oder da steht ein junger Mensch vor der Frage, ob er als Christ den Wehrdienst verweigern soll oder nicht. Als Christ kann man doch nur ... Oder da ist ein Mensch unermüdlich für andere da und überfordert sich dabei. Als Christ sollte man aber ... Wir legen anderen oder uns selber oft Verhaltensmaßregeln auf, und das schlechte Gewissen hängt als ständige Drohung über uns. "Werke des Gesetzes" hat der Apostel Paulus (Galaterbrief 2,16-21) das genannt.
Er setzt dagegen: Die Liebe Gottes läßt sich nicht erarbeiten und nicht verdienen. Gottes Liebe ist das Wichtigste im Leben. Sie schafft Freiheit und sie ist ein Geschenk. Martin Luther hat das später für sich und für seine Zeit wieder entdeckt. Und seitdem gehört dieses Wissen zum Grundbestand evangelischen Glaubens. Bewahrt uns dieses Grundwissen davor, immer wieder neue Gesetze aufzustellen und das Christsein daran zu messen?
Wer zu einem anderen sagt: "So und nicht anders mußt du dich verhalten", der macht sich zum Herrn eines angeblich erziehungsbedürftigen Menschen, zu einem "Gesetzgeber", der beim anderen freisetzen will, was noch nicht richtig entwickelt ist. Und auch wer sich selbst unter Druck setzt, wer mit sich selber schonungslos umgeht und darüber verbittert wird, verfügt über sich selbst. Er formt sich so, wie ihn Gott gerade nicht haben will.
Es kommt nicht darauf an, wie wir uns vor Gott darstellen, sondern wie wir vor ihm dastehen (Lukasevangelium 18,9-14). Das letzte Urteil über mein Leben kommt nicht von mir selber. Ich bin bei meiner Beurteilung auf die Sichtweise Gottes angewiesen. Und wer zugibt, daß er darauf angewiesen ist, der gibt Gott Raum, der läßt Gott zu sich kommen, der glaubt. Und wer glaubt, der steht vor Gott recht da.
Deshalb müssen wir die Erinnerung wachhalten an ein Leben in Freiheit. Wir sehen uns mit anderen Augen, wenn wir die Liebe Jesu zu uns erfahren. Wir leben unser Leben anders, wenn wir statt schriftgelehrter Richtigkeiten die geöffneten Arme des Gekreuzigten sehen. Wir leben unser Leben in Freiheit, weil wir keine Angst haben müssen um das Gelingen unseres Lebens, denn wir sind geliebt. Wir leben unser Leben ohne die Lust, andere unter ein Gesetz zu beugen. Wir leben unser Leben ohne Angst davor, mißachtet zu werden. Wir sind Gott recht.

Propst Peter Godzik, Ratzeburg