Osterartikel für die LN, 11. April 1998
 

Engel des Herrn

Jedesmal, wenn wir den Bericht von der Auferstehung Jesu hören, fragen wir uns: Wie ist das bloß alles möglich gewesen, was damals geschehen ist? Ein großes Erdbeben, ein Engel vom Himmel, ein weggewälzter Stein, ein auferstandener Toter. Uns überkommen Zweifel. Sollte das wirklich so geschehen sein, wie es berichtet wird? Oder ist das alles nur einer frommen Phantasie entsprungen? Mit unserem kritischen und aufgeklärten Wissen von heute versuchen wir, eine alte Geschichte zu verstehen. Sie zerbricht uns dabei, sie zerrinnt uns unter den Fingern. Wir bekommen so keinen Zugang. Haben wir etwas falsch gemacht?
Einen Hinweis in andere Richtung gibt uns das Osterlied von Wilhelm Willms:

Welcher Engel wird uns sagen, daß das Leben weitergeht,
welcher Engel wird wohl kommen, der den Stein vom Grabe hebt?
Wirst du für mich - werd ich für dich der Engel sein?

Welcher Engel wird uns zeigen, wie das Leben zu bestehn?
Welcher Engel schenkt uns Augen, die im Keim die Frucht schon sehn?
Wirst du für mich - werd ich für dich der Engel sein?

Welcher Engel öffnet Ohren, die Geheimnisse verstehn?
Welcher Engel leiht uns Flügel, unsern Himmel einzusehn?
Wirst du für mich - werd ich für dich der Engel sein?

Dieses Lied sagt: Blickt nicht in die Vergangenheit, sondern schaut in eure Gegenwart. Fragt nicht, was war; fragt lieber, was sein könnte.
"Welcher Engel wird uns sagen, daß das Leben weitergeht? Welcher Engel wird wohl kommen, der den Stein vom Grabe hebt?" Wir brauchen solche Engel, das steht fest. Weil wir uns manchmal verrennen und zentnerschwere Lasten auf uns liegen. Da ist es gut, wenn uns einer weiterhilft, wenn uns die Augen und Ohren geöffnet werden für das Leben um uns herum.
"Wirst du für mich, werd ich für dich der Engel sein?" Auf einmal wird mir klar, daß die Frage nach dem, was damals geschehen ist, gar nicht die Hauptsache ist. Nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart entscheidet darüber, ob ich diese Geschichte glauben kann oder nicht.
Ostern, so begreife ich, ist eine Erfahrung. Eine Erfahrung, die Menschen - du und ich - immer wieder einmal machen: daß das Leben weitergeht; daß der Stein weggenommen ist, der auf uns lastet; daß wir Augen und Ohren bekommen für das Schöne und Gute um uns herum; daß wir Kraft finden, unser Leben zu bestehen; ja, daß sich ein Stück Himmel für uns auftut, wir fähig werden, Glück zu erleben. Das geschieht doch mitten unter uns - und dann ist Ostern, Auferstehung, Überwindung des Todes. Das ist ja gar keine alte, unglaubliche Geschichte, die mit uns und unserem Leben nichts zu tun hat. Das ist ein Stück von uns selbst, von unserer eigenen Erfahrung, in Bildern und Symbolen verdichtet.
Und noch etwas wird mir klar: Ostern ist eine Aufforderung an uns, ein Spiel zu spielen, etwas aufzuführen, immer wieder aufzuführen und Wirklichkeit werden zu lassen unter uns.
"Wirst du für mich, werd ich für dich der Engel sein?" Was für eine Frage! Wollten wir sie auf Dauer mit einem Nein beantworten, uns verweigern, Ostern zu spielen füreinander, sähe es schlimm aus mit uns und unserer Welt. Dunkelheit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit - lauter Menschen, die vom Tode regiert sind. Welch ein Segen, daß sich immer wieder Menschen auf den Weg machen, um ein Licht anzuzünden! Die uns erinnern an die großen Taten Gottes: das Licht der Schöpfung, das Leuchten des Regenbogens, den Feuerschein der Befreiung, den Schimmer der Hoffnung, den Morgenglanz der Ewigkeit. Die selbst ein Licht sein wollen für andere. Und da fragen wir noch: Engel - gibt's die überhaupt?

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und häßlich und klein, die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand, die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand
oder wohnt neben dir, Wand an Wand, der Engel.
Dem Hungernden hat er das Brot gebracht, der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
er hört, wenn du rufst in der Nacht, der Engel.
Er steht im Weg und er sagt: Nein, der Engel.
Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein -
es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel.

So heißt es in einem Gedicht von Rudolf Otto Wiemer. Engel - das sind wir selbst in menschlichen Begegnungen, die uns wieder aufleben lassen oder uns eine neue Richtung weisen - in Gesten und Zeichen, die uns Hoffnung vermitteln. Brot zum Beispiel und Wein als elementare Nahrung des Lebens. Was brauchen wir viel, wenn wir nur das haben, um satt zu werden: ein wenig Brot, ein wenig Wein - und die Gemeinschaft derer, die das alles miteinander teilen. Ein liebevolles, ein tröstendes Wort und ein Weg, der uns gewiesen wird. Ein Licht, das uns leuchtet und wärmt; die Erfahrung von Sinn in den kleinen Begegnungen des Alltags.
Noch einmal: Ostern ist eine Erfahrung - daß das Leben weitergeht, daß es Liebe gibt und einen Sinn. Und: Ostern ist eine Aufgabe - daß wir lernen, einander die Lasten des Lebens zu tragen, Engel zu sein - Lichter, wie Er eines war.

Peter Godzik, Propst des Kirchenkreises Herzogtum Lauenburg, Ratzeburg