Artikel für die Weihnachtsausgabe 1999 der LN

Das Wunder der Weihnacht

Das Wunder der Weihnacht besteht darin, daß Gott von sich aus die zerbrochene Gottebenbildlichkeit im Menschen wiederherstellt in diesem Kind in der Krippe. Es ist ein armseliger Anfang, bedroht und gefährdet von allen Seiten. Aber es ist ein Anfang, der weitergeht und den niemand mehr herausschaffen kann aus dieser Welt - auch Tod und Teufel nicht. Damit sind wir gerettet - es kann etwas wachsen und neu werden in uns. Unser Herz kann zum Stall und zur Krippe werden, in dem das Gotteskind, unsere menschliche Würde, so wie wir gemeint sind von Anfang an, neu geboren werden kann. Klein und bescheiden fängt es an, aber es hat eine große Verheißung: "Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, daß wir - wir! - Gottes Kinder heißen sollen - und es auch sind!" (1. Johannes 3,1)
Wenn wir das verstanden haben, daß nach der Geburt des Gottessohnes in der Heiligen Nacht wir selber an Weihnachten zu Gotteskindern geworden sind, dann ist alles gut, dann ist Gott mit seiner frohen und liebevollen Botschaft bei uns angekommen. Denn um anderes oder weniger geht es nicht. Was nützt uns die Geburt eines Heilandes, der uns fremd bleibt, den wir nicht annehmen können in unserem persönlichen Leben? Wenn nur dieser eine da oder auch noch ein paar andere zu Gotteskindern werden und nicht wir selbst - jeder und jede einzelne von uns.
Das Bibelwort aus dem 1. Johannesbrief  enthält nicht nur die befreiende Botschaft für heute: Du bist ein Gotteskind!, sondern auch das Evangelium für die kommenden Tage und Zeiten des neuwerdenden Jahres und für unsere darin sich wandelnde Lebensgeschichte: "Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein." (1. Joh. 3,2) Das Ziel ist klar: wir werden christusförmig werden, wachsen zu ihm hin, der das Haupt ist.
In unserem Christsein den Christus anziehen und in sein Antlitz verwandelt werden: Das wird nicht auf einmal geschehen können, das wird viel Zeit brauchen und durch viele Ängste und Nöte hindurchgehen. Christus ist das auch nicht erspart geblieben, zu seufzen und zu weinen, geängstigt und geschlagen zu werden. Ja, die tiefste Einsamkeit und den Foltertod hat er ertragen müssen und ist darin in seinem Vertrauen nicht zuschanden geworden. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen", hat er geschrien wie so viele gequälte Menschen. Aber er hat doch am Ende sagen können: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Und: "In deine Hände befehle ich meinen Geist."
Es ist nicht leicht, diese Haltung der Liebe und Barmherzigkeit anzuziehen und darin ein Gotteskind zu werden. Es geht eigentlich nur, indem wir uns ganz bewußt darauf vorbereiten - wie das z.B. ein Künstler oder Sportler tut, der etwas Großes leisten möchte. Im Wettkampf oder in der Darbietung vor anderen kommt es darauf an, sich ganz bewußt zu konzentrieren, all das Nebensächliche, Verführerische und Ablenkende abzutun und ganz da zu sein, damit das gelingt, was ich mir vorgenommen habe. Menschen, die solches vorhaben, geben oft durch die Kleidung zu erkennen, in welcher Konzentration sie sich befinden, worauf sie all ihr Augenmerk richten wollen.
Deshalb ist ein Vorgang so bedeutsam, der sich alljährlich am Heiligen Abend im Schleswiger Dom abspielt: Vor aller Augen bekommt das Christuskind aus dem Brüggemann-Altar ein neues weißes Kleid angetan und wird dann zurück an seinen Platz im Sakramentshaus des Altars gebracht. Es ist ein Vorgang uns zur Mahnung und uns zur Erinnerung: Auch wir sollen Christus anziehen, uns reinigen von aller Sünde, ein neues Gewand anlegen - das weiße Gewand unserer Taufe und Verbundenheit mit Christus. Denn dazu ist Christus erschienen: daß er die Sünde wegnehme und uns ein neues Leben ermögliche in wiederhergestellter Gottebenbildlichkeit und unverlierbarer Gotteskindschaft.
Dazu ist die Kirche da, dazu hat Christus das Abendmahl eingesetzt: Daß wir Menschen befreit werden von der Last eines verfehlten Lebens und einen neuen Anfang wagen dürfen. Das also ist die Botschaft von Weihnachten: Gott schenkt uns seinen Sohn - seht, welch eine Liebe!

Propst Peter Godzik, Ratzeburg