Heimgesucht

 

Manchmal kommt die Zerstörung unserer Welt mit großer Macht über uns. Es kann geschehen durch eigene und fremde Schuld. Wir sahen die Vorzeichen, aber reagierten nicht. Dann können wir nur noch hinnehmen und ertragen, was über uns kommt. Einiges wird unwiederbringlich fortgerissen in den Strudel des Abgrunds, anderes bleibt auf dem Grunde der Zerstörung erhalten: ein letzter Funken der Hoffnung, ein verbrannter Rosenstrauch, aus dem neues Leben hervorbricht.

Ground zero – das haben so viele Menschen im persönlichen Leben erfahren und im Leben der Völker. Im Predigttext für den vergangenen 10. Sonntag nach Trinitatis, den Sonntag zum Gedächtnis der Zerstörung Jerusalems, heißt es: „Aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück“ (2. Könige 25,12). Dem Erdboden gleichgemacht werden und dann von der Erde lernen und aufstehen: den Acker wieder bestellen, das Gewachsene ernten und mit Wenigem auskommen. Einfach sein und in der Gemeinschaft der Geringen das Leben wieder lieben.

Gott zerstört nie ganz, er lässt immer diesen Rest, aus dem Neues hervorgeht. Es ist sein Heimsuchen zu Buße und Umkehr, ein Neuwerden in verwandelter Gestalt. Wer am Boden zerstört daliegt, wird es zunächst weder sehen noch fühlen können. Aber es folgt ein Auferwecktwerden zu neuem Leben. Ganz langsam und behutsam hebt sich vom Boden, was doch zerstört und ausgerottet sein sollte.

Gott lässt nicht zu, dass unser Leben so vergeht. Nicht einmal durch den Tod hindurch. Der behält nicht das letzte Wort, sondern Licht und Leben. Einer steht auf, einer ist auferstanden, und wir folgen dieser unüberwindlichen Macht. Was muten wir einander zu in unseren gegenseitigen Heimsuchungen, die eher übelwollen als heilen? Gott lässt sich davon nicht beirren. Aus dem Grunde zerstörter Beziehung und verletzten Lebens ruft er zu neuem Sein: Sieh doch, hör doch, nimm an, lass dich zurechtbringen, lebe – verwandelt und einfach.

Das Gedächtnis der Zerstörung Jerusalems ist auch das Gedächtnis der Wiederaufrichtung des Lebens in dieser Stadt, in diesem Land, in allen Städten und Ländern, in denen Menschen einander Gewalt angetan haben und noch heute antun. Es ist wie mit dem Rosenstrauch: verbrannt und neu blühend, weil Gott nicht mit Stumpf und Stiel ausreißt, sondern stehen lässt diesen Rest, die Wurzel, aus dem das Leben neu hervorwächst. „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt. Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht. Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“ (Schalom Ben-Chorin)

 

Propst Peter Godzik, Ratzeburg