Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Liebe Gemeinde!
Eine Zeitlang war ich ganz ohne Nachrichten aus Deutschland. Vier Wochen lang habe ich unseren Partnerkirchenkreis, den Kotte-Distrikt, in der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Papua-Neuguinea besucht. Von morgens bis abends auf den Beinen, Besuche machend, Gespräche führend, Land und Leute kennenlernend war es eine gute und reiche Zeit.
Vor einer Woche zurückgekehrt nach Hause haben mich die Nachrichten wieder eingeholt: vom Streit in der SPD um das Buch von Oskar Lafontaine, von der Auseinandersetzung um das Verbleiben der katholischen Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatung, ich habe die Schreckensmeldungen wieder in mich aufnehmen müssen von der Regenflut in Mexiko und von dem Eisenbahnunglück in London.
Auch im eigenen Kirchenkreis gab es neben allerlei erfreulichen Mitteilungen auch Hinweise auf und Erfahrungen mit Konflikten und Streitereien, die bearbeitet und geschlichtet werden müssen.
Ich kann den Seufzer des Apostels Paulus verstehen: Es ist eine böse Zeit. Wie kann es nur angehen, daß sich die Menschen das Leben gegenseitig so schwer machen? Manchmal hat man den Eindruck, als wären wir von allen guten Geistern verlassen und allerlei dämonischen Kräften ausgesetzt, die uns durcheinanderbringen wollen. Man möchte gleich wieder fortlaufen an einen Ort der Harmonie und Schönheit, wie ich ihn auf meiner Reise nach Papua-Neuguinea am Pazifik entdeckt habe.
Aber die Welt ist auch dort nicht heil, sondern vielen Gefährdungen und Verwerfungen ausgesetzt. Es ist eine böse Zeit.
Es gibt nun zwei Verhaltensweisen, darauf zu reagieren, die vielleicht auf den ersten Blick ganz verständlich erscheinen, sich aber doch bei näherem Hinsehen als recht gefährlich erweisen.
Die eine geht so: Ich stürze mich gleich kopfüber hinein in diese böse Welt, ich diskutiere und streite mit, ich bringe mich mächtig ein und agiere mit im Spiel der Kräfte. Ich lasse mich also ganz und gar bestimmen von der Tagesordnung der Welt.
Die andere heißt: Ich ziehe mich erschrocken zurück, ich lasse den Dingen ihren Lauf, ich nehme mich ganz passiv zurück, ich resigniere und wende mich ganz von der Tagesordnung der Welt ab.
Paulus sagt: Das ist ganz unvernünftig. Laßt euch nicht so in Anspruch nehmen oder abstoßen von der Welt. Versteht, was Gott will, und danach allein richtet euch. Wandelt als Weise, kauft die Zeit aus. Zeit ist uns ja von Gott anvertraut, als Lebenszeit und Arbeitszeit, als Zeit zum Streiten und Diskutieren, aber auch als Zeit zum Friedenstiften und Versöhnen. Jedem und jeder von uns ist Zeit anvertraut in einer bestimmten Umgebung, mit bestimmten Schwerpunkten und Aufgaben.
Diese uns von Gott geschenkte und anvertraute Zeit enthält eine wichtige Botschaft: Wir sollen uns unsere Zeit nicht nehmen lassen von anderen. Die anderen sind nicht wichtiger mit ihrer Zeit und ihrer Tagesordnung.
Das ist ja das gefährliche an den Medien: Wenn wir in die Zeitung schauen oder vor dem Fernseher sitzen und uns vorschreiben oder vorgaukeln lassen, was jetzt unbedingt dran ist, was auf die Tagesordnung gehört, womit wir uns auseinanderzusetzen haben.
Da gibt es also täglich genug Kräfte, die uns die Zeit nehmen wollen, nicht nur der Länge nach, sondern auch dem Inhalt nach. Am stärksten spüren wir das gegenwärtig in all den Anschlägen auf die Sonntagsruhe. Auf einmal soll das Kaufen und das Erleben im Mittelpunkt stehen, Ablenkung und rauschhafte Momente, die uns die Zeit und die Aufmerksamkeit stehlen, zu uns selbst, zu Gott und zu unserem Nächsten zu kommen.
Paulus schreibt: sauft euch nicht voll Wein, sondern laßt euch vom Geist erfüllen.
Es ist nicht gleichgültig, was wir alles zu uns nehmen, konsumieren, uns auferlegen und verdauen müssen.
Es gibt allerlei Süchte, die uns Menschen gefangennehmen können ? nicht nur der Mißbrauch von Alkohol. Das kann auch die übertriebene Arbeit sein, die gesundheitsgefährdende Freizeitgestaltung oder manches Genußverhalten, das uns statt uns zu bereichern und zu beschenken, fest im Griff hält und nicht wieder losläßt. Hinter all dem mag ja ein wichtiger Impuls stecken: die Suche und Sehnsucht nach Freiheit, Selbstverwirklichung, glückhafter Gemeinschaft oder das Ausprobieren unserer Kräfte.
Aber stillt das unseren Lebensdurst? Wird nicht der verständliche Hunger nach Leben auf einer ganz falschen Ebene befriedigt und festgehalten? Viel zu vordergründig und materialistisch, nicht tief genug und nicht wirklich geistlich gegründet. (In Alexishafen habe ich gelesen: Gott ist das einzige Ziel, das die Sehnsucht der Menschen erfüllen kann.)
Sich vom Geist erfüllen lassen, heißt zunächst einmal innehalten, stillwerden, hinhorchen, einfach werden, leer und bereit zu empfangen.
Denn Gott kommt nicht mit Donner und Brausen, nicht mit bezwingenden Eindrücken wie all die anderen, die uns erreichen und beeindrucken wollen. Gott kommt leise und leicht - mit einem stillen sanften Sausen, in einer "Stimme verschwebenden Schweigens" (Martin Buber).
Gott füllt uns nicht ab, so daß wir Verdauungsschwierigkeiten bekommen, Gott nähert sich behutsam und erfüllt mit seinem Geist - ganz leicht, ganz einfach.
Geistliche Fülle hat etwas mit Gespräch zu tun, mit Gesang und Gebet.
"Ermuntert einander in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen und sagt Dank ..." schreibt Paulus.
Es geht um den Spielraum im Herzen. Gibt es den noch oder sind wir längst voll gestellt mit Ängsten und Sorgen, mit Streitfragen und Tagesordnungspunkten? Achten wir auf unsere Herzen noch so, daß Gott darin Platz hat?
Bei der Tagung der Luther-Akademie, die uns hier im Dom zusammengeführt hat, geht es um die Wichtigkeit der Gottesbeziehung als dem eigentlich tiefen Inhalt aller Religion und aller Religionen. Wir sollten einander dazu ermuntern, Zeit zu haben für Gott. Und wenn wir es bei einem anderen entdecken, daß er diese Zeit für Gott hat, daß sie betet und singt ehren und achten, auch wenn es nicht oder noch nicht mit Christus verbindet. Religion haben heißt auch dankbar sein und leben aus dem, was uns gegeben ist. Wer das kann, danken für empfangene Gabe und Zeit hat für Gott und das Göttliche, der ist nicht weit entfernt von der Haltung Jesu. Er hat uns doch gezeigt und vorgelebt, was das heißt, Vertrauen zu haben, sich die Kraft zum Leben aus der Gottesbeziehung zu holen und ganz und gar hingegeben zu sein an den, der allein weiß, was gut für uns ist.
"Herr schicke was du willst, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, daß beides aus deinen Händen quillt. Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten. Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden" (Eduard Mörike).
So beten wir manchmal und zeigen darin, welch Geistes Kinder wir sind. Es gibt eine Freude und einen Reichtum aus innerem Glanz und Erleben. Alle wahrhaft religiösen Menschen teilen diese Haltung und verwandeln darin das Antlitz der Erde. Sie können auch wahrhaft dienen und sich unterordnen, weil sie sich nicht zu behaupten brauchen und auch nichts behaupten müssen gegenüber anderen.
Sie haben ein Haupt, das ist das Entscheidende, Gott, dem sie dienen. Für uns hat dieses Haupt ein menschliches Antlitz bekommen: liebevoll und segnend, heilend und erklärend, manchmal auch sorgenvoll und zornig, am Ende aber hingegeben und verzeihend. Er schaut uns an vom Kreuz und fragt uns: Willst du es, kannst du es annehmen, daß Liebe so sein kann? Wenn Du nicht so sein kannst, laß es Dir wenigstens schenken und es wird dich verwandeln. Dann hört das auf, mächtig zu sein: die böse Zeit und der Unverstand, die Unordnung und die Verlorenheit. Dann bist du wirklich frei, weil Du der Liebe, weil Du einem Liebenden gehörst: Christus.
Amen.
Predigt am 08.10.1999 über Epheser 5,15-21 anläßlich der Tagung der Luther-Akademie in Ratzeburg von Propst Peter Godzik