150 Jahre Diakonie

von Propst Peter Godzik

18.11.1998: Buß- und Bettag (Text: Reihe VI) (Tag der Diakonie)
Jesaja 1,10-17 i.A.

Heute, am Buß- und Bettag, feiern wir den 150. Geburtstag der Diakonie. Johann Hinrich Wichern hat 1848 in Wittenberg mit seiner Rede auf dem Kirchentag den Anstoß zur Gründung der Inneren Mission gegeben. In seiner berühmt gewordenen Stehgreif-Rede fielen am Ende die Worte: "Eines tut not ...: Die Liebe gehört mir wie der Glaube!"

Eine Art zweite Reformation, wieder von Wittenberg ausgehend, erfasste unsere Kirche: Sie machte sich erneut und verstärkt auf den Weg der rettenden Liebe zu den hilfsbedürftigen Menschen. Es war so etwas wie ein Bußruf an den zerstrittenen und zersplitterten Protestantismus, der damals von Wichern in Wittenberg ausging.

Und deshalb ist es durchaus angemessen, wenn wir heute, am Buß- und Bettag, an das Jubiläum der Diakonie denken. Auch bei der Durchsicht der Lesungen und Predigttexte stoßen wir auf Formulierungen, die uns die diakonische Aufgabe deutlich vor Augen führen.

Es beginnt bei den Mahnungen des Propheten Jesaja, der den Israeliten als Wort Gottes übermittelt: "Was soll mir die Menge eurer Opfer? Das Räucherwerk ist mir ein Greuel! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten. Lasst ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach dem Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!" (Jesaja 1,10-17 i.A.)

Wie in einem Brennglas haben wir hier bereits die wesentlichen Aufgaben der Diakonie versammelt: das Tun des Guten, das Trachten nach dem Recht, die Hilfe für die Schwachen, die Bedürftigen und Unterdrückten.

Dass die Witwenversorgung zum Anfang der Gemeindediakonie in der urchristlichen Gemeinde in Jerusalem wurde, hören wir aus der Apostelgeschichte (im 6. Kapitel). Auf Anregung der Apostel, die das Predigtamt weiterführen wollen, werden sieben Armenpfleger gewählt - die Geburtsstunde des Diakonenberufes in der Kirche. "Die Liebe gehört mir wie der Glaube" - die Wahrheit dieses Satzes findet ihren Ausdruck in der grundlegenden Entscheidung der Alten Kirche, neben das Predigeramt das Diakonenamt zu stellen.

Selbst die guten Werke, die uns das ewige Heil zwar nicht verdienen, die aber doch mit einem echten Glauben verbunden sind und mit denen es, recht verstanden, die Diakonie ständig zu tun hat, kommen in den Lesungen des heutigen Tages vor. Wir haben es gehört aus dem Brief des Apostels Paulus, dass Gott "einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Ungnade und Zorn aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die Gutes tun". Ausgerechnet Paulus, den wir gern als Kronzeugen gegen die Werkgerechtigkeit anführen, spricht hier so positiv von den guten Werken und davon, dass Gott einem jeden geben wird nach seinen Werken! Wie gesagt, wir verdienen nicht das Heil nach unseren Werken - da müssten wir ja ganz und gar an uns verzweifeln -, aber Gott gibt uns nach unseren Werken Frieden, Ehre und ewiges Leben, und deshalb sollen wir uns gegenseitig "anreizen zur Liebe und zu guten Werken", wie es im Hebräerbrief (10,24) heißt.

Es geht aber noch weiter mit den diakonischen Bezügen in den Lesungen und Predigttexten unseres heutigen Buß- und Bettages. Im Evangelium wird uns eine der wichtigsten diakonischen Tugenden vor Augen gestellt: die Geduld. Der Weingärtner - ein Bild für Christus - bekehrt den Weinbergbesitzer - ein Bild für Gott - zur Nachsicht und zur Geduld: "Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so haue ihn ab" (Lukas 13,9).

Diakonische Arbeit in ihren vielfältigen Bezügen heißt: Geduld haben, nachsichtig sein - im wahrsten Sinne des Wortes: nach jemandem sehen -, heißt auch richtige Kärrnerarbeit tun: umgraben und düngen, vielleicht auch beschneiden oder umsetzen, vor allem: nachschauen und zusehen, dass einer Frucht bringt. Zu-sehen, hinein-sehen: das ist die Aufgabe verwandelnder Liebe, die sich nicht beirren und sich nicht abbringen lässt - auch wenn es manchmal mehr als ein Jahr dauert. Christus ist also unser Diakon, von dem wir gelernt haben, was es heißt, diakonisch zu handeln.

Und nun noch ein kurzer Streifzug durch die anderen Lesungen und Predigttexte des Buß- und Bettages - immer auf der Suche nach diakonischen Bezügen, geleitet von der Grundüberzeugung, dass die Innere Mission, die Diakonie, die entscheidende Buß- und Umkehrbewegung unserer Kirche ist - von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, von Basilius dem Großen über Franz von Assisi bis zu Johann Hinrich Wichern und darüber hinaus. "Die Liebe gehört mir wie der Glaube" - davon lebt die Kirche, und sie muss sich immer wieder bekehren, wenn sie eins von beiden vernachlässigt. Glaube ohne Liebe ist tot (Jak. 2,17) - Liebe ohne Glaube ist kraftlos und leer.

Christus kennt den inneren Zusammenhang, wenn er im Evangelium nach Matthäus sagt: "Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz" (12,35). Und - als hätten wir nicht schon genug Streit um die Rechtfertigungslehre zwischen Katholiken und Protestanten - er fügt hinzu: "Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden" (12,37).

Es ist ja zum Erschrecken, wenn unsere Worte solche Bedeutung bekommen. Aber wir wissen das alles - wir wissen auch, das Worte töten können, wie es in der Bergpredigt heißt (6,22). Gott will nicht so tödlich mit uns reden, obwohl er es könnte. Er will unsere Umkehr und unser Leben, und wir leben von seinen guten Worten, von seinem Evangelium: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht" (4,4). Was bedeutet das für eine Diakonie, in der "Brot für die Welt" eines der größten Werke ist? Müssten wir nicht auch "Wort für die Welt" - und zwar gutes Wort für die Welt, benedictio, Segenswort für die Welt - dazu erfinden? Und haben wir es nicht schon längst im Dienst der Äußeren Mission, die auch ein diakonischer Dienst ist, weil wir auf den Missionsfeldern dienen - nicht herrschen, was leider auch vorgekommen ist - mit Wort und Sakrament und mit Taten der Nächstenliebe? "Der Glaube gehört mir wie die Liebe" - die Innere Mission wie die Äußere Mission - sie müssen nur zueinander bekehrt werden und sich gegenseitig halten und unterstützen.

Die Diakonie lebt nicht vom Brot allein - jedenfalls nicht allein von Geld- oder Sachspenden, obwohl die immer wichtig und willkommen sind -, sie lebt vor allem von dem guten Wort, dem Evangelium, das zuerst von Gott kommt und dann durch uns an andere weitergegeben wird. Die diakonische Arbeit lebt von den vielen Gesprächen mit den Menschen, die bei uns um Hilfe nachsuchen. Diese Gespräche werden in einer guten und vertrauensvollen Atmosphäre geführt und möchten erreichen, dass die Hilfesuchenden selbst einen Weg entdecken, wie es mit ihnen weitergehen kann.

Wer bei aller Hilfe im materiellen und im geistlichen Sinn vergisst, dass er selber ein hilfsbedürftiger und auf andere angewiesener Mensch ist, der wird mit einem wichtigen Wort aus der Offenbarung des Johannes ermahnt: "Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß." Ja, äußerlich mag es den Anschein haben, als seien wir als die Helferinnen und Helfer in der Diakonie nicht so arm, blind und bloß, aber innerlich, wie sieht es da mit uns aus?

Wieder stoßen wir auf den Zusammenhang von Glaube und Liebe. Was nützen die großen Taten christlicher Nächstenliebe, wenn dem kein innerer Reichtum im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung entspricht? Der Seher Johannes gibt uns allen einen guten Rat - und ich empfinde es so, als sei er allen denen gesagt, die sich in guten Werken und in Reichtum verzehren und darin, dass sie für sich selber angeblich nichts brauchen, wie es wohl auch bei Tabea der Fall war, von der die Apostelgeschichte (9,36-37) erzählt: "Sie tat viele gute Werke und gab reichlich Almosen. Es begab sich aber zu der Zeit, dass sie krank wurde und starb" - wie gesagt, zu all diesen eifrigen Helferinnen und Helfern mit ihrem Helfer-Syndrom sagt der Engel der Gemeinde durch den Seher Johannes: "Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest" (3,18).

Am liebsten hätte ich uns allen eine kleine Tube Augensalbe aus der Apotheke zum Diakoniejubiläum besorgt - damit wir die Nöte unserer Zeit richtig sehen lernen, aber vor allem uns darin, dass wir wieder sehend werden für unsere eigene Not, all die geistliche Leere und Orientierungslosigkeit, die daraus erwächst, dass wir meinen, alles zu haben und nichts zu brauchen, schon gar nicht in religiöser Hinsicht. "Die Liebe gehört mir wie der Glaube" - wer diesen Satz Wicherns gern nachspricht, sollte den Glauben nicht vergessen, der zuallererst uns rettet und heil macht, ehe wir anderen überhaupt dienen können. Wahrer Reichtum entsteht nicht durch Goldkäufe und Börsenspekulationen, sondern durch Ergreifen und Weitergeben der Liebe Gottes. Wahrhaft gut gekleidet ist, wer den Mantel teilt wie der Heilige Martin und ihn dann in seiner Lebenshingabe ganz hergibt, um schließlich von Christus mit dem "Rock der Ehr und Herrlichkeit" (EG 477,4) angetan zu werden. Johann Hinrich Wichern trägt so ein weiß leuchtendes Gewand in Zeit und Ewigkeit, wie all die großen Diakone und Diakoninnen vor und nach ihm.

"Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. Und siehe, es sind Letzte, die werden die ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein", heißt es in der kleinen Apokalypse des Lukas (13,29-30), die auch zu den heutigen Lesungen gehört. Ja, so fragen wir, wobei, bei wem wird es Erste und Letzte geben? Die Antwort heißt: Wenn Christus uns zu Tische dient, selber der Diakon ist, dann wird er eine andere Reihenfolge wählen als die, die wir gewohnt sind einzuhalten. Er dient vor allem den Menschen, die seine Liebe besonders brauchen, damit sie aufgerichtet und geheilt, wieder eingesetzt und geehrt werden. Diakonie ist auch so eine Umkehr der Rangfolge in der Nachfolge Jesu. Sie dient, wo sie gebraucht wird. Und sie wird gebraucht, wo sie dient. Diakonie ist Umkehr, Buße, Bekehrung zum Menschen und zur Mitmenschlichkeit. Darum beten wir mit dem Psalm dieses Tages: "Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus" (Psalm 51,14). Amen.

Abgedruckt in: Leuchten wie des Himmels Glanz. Lebenszeichen aus dem Lauenburger Land. Ausgewählte Predigten von Peter Godzik, Rosengarten b. Hamburg: Steinmann 2008, S. 60-64.