uraufgeführt: 1951 Nürnberg (Heinz Joachim Klein)
inszeniert:
1951 Darmstadt (Gustav Rudolf Sellner), 1955 Essen (Heinz Dietrich Kenter), 1957 Berlin (Hans Lietzau),
1963 Mannheim (Heinz Joachim Klein),
1972 Stuttgart (Freie Waldorfschule, Marie Buhl)
Inhalt:
Graf Heinrich von Ratzeburg verliert in Mölln seine "Herrlichkeit", er wird demütig, lehnt das Haben ab und wird von seiner Familie dafür als schwachsinnig angesehen. Auf seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land wird er von Offerus, seinem Knecht, begleitet.
Beide wollen dem Höchsten dienen. Für Heinrich ist dies das Gesetz. Christus wird es für Offerus werden, der das Gelten abweist, dienen will und sich so zu Christ-Offerus wandelt, da er die Stärke Christi als höchste anerkennt.
Auf dem Weg ins Heilige Land begegnen diese beiden vielen, die um den Sinn menschlicher Existenz ringen. In diesem Drama geht es nicht um das Geschehen, sondern um die Haltung der einzelnen, um die Fragen nach dem Sinn menschlicher Existenz, nach den Zielen menschlichen Daseins.
Marut, ein gefallener Engel, begegnet den Pilgern ebenso wie eine mitleidige Frau, die den Leidenden Wein und Öl reicht und dafür vom Henker am Marterpfahl bestraft wird.
Die Szene am Sinai hatte Barlach als einzige zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Dort treffen Hilarion, ein christlicher Asket, und Moses aufeinander, der sich noch immer für ein "Du sollst" einsetzt. Auch Adam und Eva, uralt geworden, sind dort. Graf Heinrich kehrt mit Christofferus wieder in die alte Heimat zurück. Doch die Gräfin lehnt das Leben mit ihm ab, während sein Bruder um ihn weint.
Heinrichs natürlicher Sohn, der Landstreicher Wolf, soll dem Henker in Mölln ausgeliefert werden. So schließt sich der Weg Heinrichs, der Wolf begleitet und in Mölln statt des entflohenen Sohnes von den Stadtsoldaten erschlagen wird.
Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 49.
Spätmittelalter und Hommage an ein Zeitalter des Visionären: Der mittelalterliche Mensch besitzt noch eine visionäre Fähigkeit, und kann sich durch Schauungen den Weg aus einer brutalen Wirklichkeit in eine transzendente Welt ebnen.
Den Rahmen des Grafen von Ratzeburg bildet eine mittelalterliche Legende, nach der Heinrich I. von Mecklenburg und Herzog Albrecht während des Kreuzzugs im Orient 1271 in saraszenische Gefangenschaft geraten waren. Dass Barlach den historischen Rahmen ins 14. Jahrhundert verschiebt - Heinrichs Knecht Klaus ist der Sohn Till Eulenspiegels, der im Jahre 1350 gestorben ist -, zeigt, wie bedeutungslos dieser historische Bezug ist.
Für Barlach sind die inneren Erfahrungen wichtiger, die Heinrich Graf von Ratzeburg und sein Knecht Offerus auf ihrer "Zeitreise" durch das "Heilige Land" machen, die dabei zu einer Reise durch das Innere gerät. Die Stationen der Reise, werden zu philosophisch-theologischen Denkprozessen, die Heinrich und Offerus auf ihrem Weg der Selbstfindung durchlaufen: Die Reise trennt Heinrich und Offerus und führt sie wieder zueinander, denn jeder Mensch hat seinen eigenen Weg zum Selbst. Die individuelle Geschichte ist Quelle einer Suche, welche nicht endet, solange der Mensch Ziele anstrebt: Graf Heinrich will nicht länger "Herr des Landes" und "Herr und Haber" sein. Knecht Offerus will nur noch Knecht seines eigenen Selbst sein.
Der Weg der Erniedrigung, den Heinrich in sarazenischer Gefangenschaft gehen muss, wird abgelöst durch den Weg der Buße und Meditation. Denn Heinrich wird an den Asketen Hilarion verschenkt, der durch Fasten und Wachen Freiheit des Geistes erlangt. Er fordert freiheitliches Handeln und die Zerstörung der Gesetzestafeln des Moses. Hier trifft Heinrich erneut auf Offerus, der erkennt, dass die Wahl seines Weges falsch war. Er hat sich der Gewaltherrschaft des Marut, eines Abgesandten des Teufels, verschrieben. Er wählt den gehorsamen Weg des Moses und bürdet sich Heinrichs Ketten auf.
Mit seiner Wandlung zur Figur des Christoffer, Sinnbild des Heiligen Christophorus, geht er den Weg der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit. Wieder in Mölln, hört Christoffer die Stimme der "heidnischen" Lust. Dies besiegelt Heinrichs Schicksal: Durch die Lust Christoffers am "Dreinhauen" treibt er die Schergen auseinander, die Heinrichs Bastardsohn Wolf hinrichten wollen. Da Wolf entfliehen kann, landet Heinrich auf dem Schafott. Heinrich hat mit dem Tod einen neuen Weg beschritten, der ihn in absolutes Sein hinüberführt. Christoffers Weg geht weiter.
Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 377.
Kritik:
Als Ernst Barlach 1934 für "entartet" erklärt wurde, vollendete der Tiefgetroffene in der Zurückgezogenheit seines Güstrower Heidberg-Ateliers sein schon 1937 (sic! recte 1927) begonnenes symbolisches Drama "Der Graf von Ratzeburg". Ob freilich die Gestalt, in der das Schauspiel jetzt im Lessing-Theater der Nürnberger Städtischen Bühnen zur Uraufführung kam, dem endgültigen authentischen Willen des Dichters entspricht, ist nicht ganz gewiß, denn die Reinschrift, an der Barlach bis zu seinem Tode im Oktober 1938 arbeitete, ist, nachdem sie einige Zeit im Besitz eines inzwischen gleichfalls verstorbenen Freundes des Toten gewesen war, verlorengegangen oder mindestens bis heute noch nicht wieder aufgefunden worden. Aus den ersten verstreuten Niederschriften, die sich in Barlachs Nachlaß fanden, hat ein anderer Freund, Friedrich Schult, in mühsamer Arbeit das Drama wieder "ins Reine" gebracht. Barlach ist neben Claudel und Eliot der einzige Dichter, der in unserer Zeit noch ein großes Mysterium zu schreiben vermochte. "Der Graf von Ratzeburg" ist ein Passionsdrama, das seinen Helden zusammen mit seinem Mit- und Gegenspieler Offerus aus der geschichtlichen Welt der Kreuzzüge in ein mystisches Reich der "Begegnungen" führt, in dem sie Adam und Eva, Moses und den gefallenen Engel Marut treffen. Ihr Ziel ist die Loslösung von den "Geltungen", das Eingehen in die Wesentlichkeit, und die Vorgänge der zwölf Bilder sind nichts anderes als eine szenische Exegese des Angelus-Silesius-Wortes "Mensch, werde wesentlich".
Alles in diesem Werk, die Gestalten, die Schauplätze, die Handlungen und Reden, ist Gleichnis. Der protestantische, norddeutsche Gottsucher Barlach kennt nur das Seelenlicht, das die Dunkelheit des Mysteriums mühsam durchdringt, oder den schmerzhaft grellen, den Menschen bis zum Grund durchflammenden Strahl der Erkenntnis, wie ihn die glühende Sinai-Sonne, das Feuer Gottes, aussendet - nicht aber den Glanz der Gnade, in den der Geprüfte in den katholischen Mysterien Claudels eingeht. Das letzte, was der Graf von Ratzeburg von Gott weiß, ist, daß er ihn "hat", wozu - ob zu seinem Dienst, zu seinem Zeugnis oder aber in seiner Gnade - bleibt ungewiß.
Die gewaltigen inneren Dimensionen dieser Dichtung, die ein Menschenalter mit Äonen kreuzt, können sich auf der kleinen Bühne des Nürnberger Lessing-Theaters kaum auftun. Aber der Aufführung, deren Annahme schon ein Verdienst von hohen Graden bedeutet, ist es in der Inszenierung Heinz-Joachim Kleins besonders in den meditativen Partien gelungen, das Gleichnishafte in szenische Form zu fassen, ohne in einen unverbindlichen Symbolismus zu entgleiten - eine Gefahr, die manchmal von den Bühnenbildern Eduard Sturms her nahelag. Sie fand ihre Grenzen in den Möglichkeiten des Nürnberger Ensembles, als dessen stärkster Schauspieler sich sein Intendant Karl Pschigode als Graf Heinrich erwies. Den Fall ins Chaos, den Kampf mit dem eigenen Dämon und den "Heimweg" in die geltungslose Demut spielte er mit einer ergreifenden inneren Ehrlichkeit als Stationen einer Menschenpassion. Von einer suggestiven, entrückten Spiritualität war der Asket Hilarion Johannes Sendlers.
K.H. Ruppel, Ein Mensch der Extreme, Die Welt, 27.11.1951