Eine umstrittene These zu Barlach

Barlach [war] stark inspiriert [von] der heidnisch-slawischen Geschichte in und um Ratzeburg, wo er seine Jugendjahre verbrachte [1877-1884]. Gleich im ersten Raum des dortigen Barlach Museums wird dieser bislang vernachlässigte Strang von Einflüssen auf sein Werk verfolgt. Wurde bisher die große Südrussland-Reise [1906] als Beginn von Barlachs Faszination für - auch abgründige - osteuropäische Motive angesehen, finden sich in der Ratzeburger Schau vielfältige Belege, dass es die in seiner Kindheit stattfindenden ersten Grabungen zur Slawenarchäologie waren, die ihm unvergesslich wurden.

Ihn begeisterte in der Hochphase einer Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich überschlagenden Industrialisierung die von den holsteinischen Ausgräbern konstatierte Nähe der Slawen zur Natur, die sie als Muttergottheit verehrten [slawische Mythologie], daher nachhaltig wirtschafteten und nicht wie Barlachs eigene Zeit die Lebensgrundlagen verseuchten. Der zeitlebens an Materiellem Uninteressierte verschlang die archäologischen Jahresberichte, denen zufolge es bei den Slawen ein kommunitäres Teilen des Besitzes und die gemeinsame Bewirtschaftung der Felder gegeben habe. ...

Als früh ökologisch Interessierter zeigt sich Barlach, wenn er in den vollständig erhaltenen und von Ulrich Bubrowski vorbildlich edierten Tagebüchern und Tausenden von Briefen schon im Jahr 1896 das durch eine Textilfabrik rot verfärbte Wasser des Rheins als gleichsam apokalyptische Umweltverschmutzung beschreibt. Oder wenn der von Beginn an für soziale Fragen Brennende schon in seiner Jugendstilphase anachronistisch Arme, Hässliche und Obdachlose zeigt.

Stefan Trinks, Die Schwerelosigkeit des Existentiellen. Artikel in der FAZ vom 14. August 2020.

Ernst Barlach ist einer der wichtigsten und bekanntesten Künstler des deutschen Expressionismus, zugleich Botschafter eines modernen Humanismus und empathischer Querdenker. Die grenzenlose Fortschrittseuphorie, das zügellose Streben der Menschen nach Wohlstand, Konsum und Expansion ebenso wie die damit einhergehende Zerstörung der Erde ließen ihm keine Ruhe. Noch weniger taten es die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Vision war eine bessere, eine friedliche Welt, die sich nicht losgelöst von den Gesetzen der Natur und der Würde des Menschen in ein globales Szenario des Untergangs verwandeln sollte.

Zum 150. Jubiläum des berühmten Künstlers eröffnet das Ernst Barlach Museum Ratzeburg einen multimedialen Denkraum für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zeigt, wie relevant sich Barlachs Kunst in unsere Fragestellungen heute einmischt. Krieg, Flucht, soziale Not, Egoismus und die Missachtung der Natur waren Barlachs Themen und sind unsere bis heute. Faszinierend jedoch sind auch seine Innovationskraft, seine Empathie für den Menschen, seine Idee, dass alles in uns selbst als Bedürfnis und Vorstellung einer gerechten Welt schon angelegt ist, und dass wir träumen dürfen und festhalten müssen an der Vorstellung, diese Welt verändern zu können.

Heike Stockhaus, Geschäftsführerin der Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg: BARLACH RELOADED - Ernst Barlach Museum Ratzeburg, 2020.