Auch nach Rußland hat es Barlach immer wieder unternommen, die Natur als Erlebnisraum mystischer Gottverbundenheit zu beschreiben und zu beschwören. Ein eindringliches Beispiel dafür ist die Schilderung einer Sturmwanderung, die er unter dem Datum vom 18. September 1914 in sein "Güstrower Tagebuch" aufnahm.
Auch in diesem Text verwandelt sich eine äußere Szenerie unversehens in Gottesgedanken und am Ende in ein wortloses Gebet - Mystiker würden sagen: in ein Herzensgebet:
"Es geht ein Sturm vom Rücken, der uns vorwärts beugt, der bringt uns das Vertrauen. Nicht wir stürmen, wir werden gestürmt und der Sturm, der unsern fiebernden, starrenden Willen richtet, ist namenlos wie die wahre Gewalt, die nicht gehorcht wenn man sie ruft, ist wirklich wie die wahre Herrlichkeit, die so wahr ist wie Gott, den Niemand sieht. Wir fühlen sie, wie wir Gott fühlten in den begnadeten Augenblicken von denen einer für ein Leben genug ist. Da zeigte er sich selbstwillig, freiwillig wie die Herrlichkeit, großmütig und gnadereich wie die Gewalt und da war unsre Antwort ein wahres Gebet, kein Wort von uns, keine Bitte von uns, kein Vorschlag, kein Lob - da waren wir selbst ein ganzes Gebet, wir fühlten uns, weil wir Gott fühlten. So gewalt-herrlich ist der Sturm unseres Vertrauens, daß es wieder Gebet wird, aber kein Bitten, kein Wünschen, kein Flehen, kein Betteln oder Erdringen, sondern in Stolz und Freude gesättigt, darin wir wieder uns selbst fühlen weil wir Gott fühlen und wir nennen es Vertrauen. Und sollte selbst dies Vertrauen zu Schanden werden, so war es doch genug es einmal zu erleben."
(Tarnowski 2007, S. 60; Barlach zitiert nach: Güstrower Tagebuch. Kritische Leseausgabe, 2007, S. 74 f.)
Wenn es wahr ist, daß der Wesenskern der menschlichen Seele und der göttliche Seinsgrund von gleicher Wesensart sind: Woran erkennt ein Mensch dieses konstitutive Eins-Sein im Alltag, in seinem praktischen Lebensvollzug?
Ein frühes Zeugnis der Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex findet sich in dem schon zitierten Brief, den der Künstler während des Ersten Weltkriegs an seinen Vetter Karl Barlach schrieb. Dort heißt es ohne Umschweife: "[...] das Treiben in uns ist Gottes Treiben [-...-] selbst". Mit anderen Worten: Gott, der im Seelengrund wesende Unbegreifliche, wirkt in uns unablässig und beharrlich - das war seine Erfahrung mit sich selbst und mit anderen.
Aber was genau war gemeint, wenn vom "Treiben in uns" die Rede ist? Die Antwort darauf steht in der Parenthese zu Barlachs zitiertem Bekenntnis. Denn der vollständige Satz lautet: "[...] das Treiben in uns ist Gottes Treiben - Mühen, Sehnen, Kämpfen, Hoffen, Erbauen, Jauchzen, Wüten - selbst".
Das ist nun allerdings eine höchst aufschlußreiche Aussage: Das Eins-Sein des göttlichen Seinsgrundes mit der menschlichen Seele äußert sich nicht - jedenfalls nicht gewöhnlich - in Zuständen, die der Unbefangene und Unerfahrene gewöhnlich mit mystischer Gottesnähe in Verbindung bringt, also nicht in geheimnisvoller Gottesschau, starkem Erlebnis der Gottnähe, Vereinigungserlebnissen, Verzückung oder überwältigender Gewißheit, sondern in ganz alltäglichen Empfindungen und Impulsen, in Barlachs Worten: "Mühen, Sehnen, Kämpfen, Hoffen, Erbauen, Jauchzen, Wüten". Ein wenig umgeformt lautet die hier bekundete Überzeugung demnach: Mühen, Sehnen, Kämpfen, Hoffen, Erbauen, Jauchzen, Wüten - das alles sind Indizien für Gottes Treiben in uns.
(Tarnowski 2007, S. 61; Barlach zitiert nach: Briefe I, Nr. 355, S. 485)