Vertiefungskurs: Einführung 1993

Bei der Begleitung Schwerkranker und Sterbender kann es geschehen, daß die Betroffenen eine Art "Lebensbeichte" ablegen wollen. Oder es gibt eine Reihe von unerledigten Dingen, die ausgesprochen und bearbeitet werden müssen.

Es kommt auch vor, daß die Schwerkranken und Sterbenden beichten wollen und Stärkung durch Krankensalbung und Abendmahl begehren.

Dann ist es gut, wenn die Helfer und Begleiter in der Lage sind, mit diesem Wunsch angemessen umzugehen. Manchmal wird es sinnvoll sein, einen Priester oder einen Pastor zu rufen. Manchmal sind wir als Begleiter aber auch selber gefordert, dazubleiben, zuzuhören und ein lösendes Wort der Vergebung und des Zuspruchs zu sagen.

Das lösende Wort der Vergebung wird nur der recht sagen können, der am eigenen Leibe erfahren hat, was es heißt, Belastendes vor einem anderen auszusprechen und durch ihn Zuspruch und Ermutigung zu einem unbeschwerten Leben zu empfangen.

Deshalb laden wir in diesem Vertiefungskurs dazu ein, sich auf die Erfahrung der Beichte, des lösenden Wortes, einzulassen, die Schritte mitzugehen, die das Aussprechen von Belastendem und das Sich-Anvertrauen einem anderen Menschen gegenüber ermöglichen, und zu der Erfahrung befreiten Lebens führen, die gerade auch für das Sterben so wichtig ist.

Der Vertiefungskurs knüpft an den bisher zurückgelegten Weg des Zuhörens, Verstehens und Bleibens an und führt ihn in eine Tiefe der geistlichen Erfahrung, die es ermöglicht, als ein Getrösteter selber zu trösten und als ein Versöhnter anderen zur Versöhnung zu helfen.

Das Thema "Beichte" mag auf den ersten Blick fremd, vielleicht sogar beängstigend wirken. Wir haben deshalb bei der Entwicklung dieses Projekts lange gezögert, ob dieses Thema heute "zumutbar" ist.

Römisch-katholische ChristInnen haben mitunter ein gebrochenes Verhältnis zur Institution der Beichte, weil sie mit ihr nicht nur gute Erfahrungen gemacht haben.

Evangelische haben in der Regel gar kein Verhältnis zur Beichte und wissen oft nicht einmal, daß es diese "Einrichtung" auch in ihrer Kirche gibt. Pfarrerinnen und Pastoren haben oft selbst kaum Erfahrung mit der Praxis der Einzelbeichte.

Dennoch ist die Sehnsucht danach, sich aussprechen zu können und sich "von seinem Geheimnis zu erholen" groß. Max Frisch spricht sie in seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" aus: "Ein Katholik hat die Beichte, um sich von seinem Geheimnis zu erholen, eine großartige Einrichtung; er kniet und bricht sein Schweigen, ohne sich den Menschen auszuliefern, und nachher erhebt er sich, tritt wieder seine Rolle unter den Menschen an, erlöst von dem unseligen Verlangen, von Menschen erkannt zu werden. Ich habe bloß meinen Hund, der schweigt wie ein Priester, und bei den ersten Menschenhäusern streichle ich ihn, Brav, Patsch, brav! Und wir nehmen einander wieder an die Leine..."

Viele Menschen sind heute bereit, viel Geld für Psychotherapien auszugeben, weil ihnen bei der Therapeutin oder dem Therapeuten erlaubt wird, sich zu erkennen zu geben und das Innerste zu zeigen. TherapeutInnen können viel dazu beitragen, die Strukturen einer Lebensgeschichte aufzudecken und verstehbar zu machen. Sie können auch dazu beitragen, deplazierte und unberechtigte Schuldgefühle auszuräumen. Aber es bleibt wirkliche Schuld, die nur durch Vergebung bereinigt werden kann. Diesen Auftrag kann niemand der Kirche abnehmen. Denn er stammt von Jesus selbst.

Jesus hat Menschen die Sünden vergeben. Manchmal war das der Beginn eines Heilungsgeschehens, von dem der ganze Mensch erfaßt wurde. In den Auftrag zu "binden" und zu "lösen", hat er auch seine Jünger einbezogen: "Wem ihr die Sünden erlaßt, sind sie erlassen, wem ihr sie behaltet, sind sie behalten." Vielleicht muß sich die heutige Kirche einst vorwerfen lassen, zu vielen Menschen die Sünden "behalten" zu haben, weil das Angebot der Beichte in Vergessenheit geraten ist.

Nach evangelischer Auffassung hat jede Christin und jeder Christ das Recht, diese Bevollmächtigung in Anspruch zu nehmen und "Beichte zu hören". Der Vertiefungskurs leitet unter anderem dazu an, sich damit vertraut zu machen, wie das in der Praxis geht. Er trägt auch dazu bei, angstmachende und verletzende Erfahrungen mit der Beichte aufzuarbeiten.

Dennoch verstehen wir die Überschrift "Das lösende Wort" umfassender. Es geht nicht nur um die Beichte "im strengen Sinn", sondern um jede Form zwischenmenschlicher Kommunikation, in der das menschliche Wort lösend, heilend und helfend wirkt. Es gibt eine Form des Gesprächs, die sich selbst niemals "Beichte" nennen würde und die ohne Rituale und Formeln dennoch das tut, was Jesus gewollt hat: Menschen spüren lassen, daß sie in allen Ängsten und in allen schuldhaften und schuldlosen Verstrickungen des Lebens bedingungslos geliebt und angenommen sind. Was können wir einem Menschen am Ende des Lebens besseres wünschen oder vermitteln als dieses große "Ja, es ist alles gut!"?

Manchmal geschieht noch auf dem Sterbebett Versöhnung mit Eltern, Geschwistern, Kindern und Nachbarn. Wenn eine Begleiterin oder ein Begleiter zu solch einer Versöhnung beitragen und sie miterleben kann, dann ist dieses Erleben in sich selbst der vielleicht größte Lohn für den eigenen Dienst.

Andreas Ebert

Erläuterung 1995

Aktive Verben - das ist ja das, was wir dauernd tun und machen. Wir sind tätig auch in der Nächstenliebe, das sollen wir ja auch. Aber wo sind wir betroffen? Wo tun wir etwas für unsere Haltung - für unsere innere Haltung, aus der heraus wir etwas tun? Es ist sehr wichtig, dass wir nach einer Zeit des Tätigseins einmal nachdenken: Wie ist das mit dem eigenen Gerufensein, Gefragtsein, Bedacht-, Bekanntsein? Könnte es nicht sein, dass sich etwas Ähnliches bei den Schwerkranken und Sterbenden abspielt; dass z.B. bei "bedacht" das Bedenken des eigenen Lebens dran ist, nämlich "Lebensbilanzarbeit"? Was kommt da nicht alles zusammen in einem langen Leben, was Schmerzen verursacht und vielleicht noch durch das eine oder andere lösende Wort losgelassen werden kann?

Peter Godzik, Vortrag in Kassel am 4. September 1995, S. 6.

Erläuterung 2006

Der Vertiefungskurs hat auch acht Schritte und die sind an der Beichte orientiert. Wie es dazu kam? Es gab zur damaligen Zeit eine Art liturgischen Entwurf zur Beichte: Anrufung, Verkündigung, Besinnung, Beichte, Lossprechung, Dank. Und ich dachte, ich könnte das nehmen als Struktur für den Vertiefungskurs. Da hat mir meine Vorbereitungs- und Projektgruppe gesagt: Also, mit diesen erschlagenden Hauptworten wollen wir nichts zu tun haben! Da habe ich versucht, diese Struktur zu übersetzen und habe damals so eine Art Meditation gemacht zum Thema und bin darauf gekommen, das Ganze umzubenennen. Da heißt es dann: gerufen, gefragt, bedacht, bekannt, gelöst, erfüllt, gesegnet, begabt. Partizip Perfekt Passiv.

Daraufhin hat die Projektgruppe gesagt: Das nehmen wir, das ist ja wunderbar, das changiert ein bisschen, sowohl den Schwerkranken und Sterbenden betreffend - der wird ja auch gerufen, sozusagen ans Ende seines Lebens - als auch den ihn Begleitenden, der was lernen soll: der ist auch zwischen "gerufen" und "begabt", arbeitet an sich, denn das Material, das wir zum Arbeiten mitbringen, sind wir selbst. Etwas anderes an Handwerkzeug haben wir ja nicht anzubieten oder mitzubringen, nur uns. Also: Wir arbeiten in dem Vertiefungskurs nicht mehr mit aktiven Verben, sondern an Haltungen, inneren Haltungen.

Und trotzdem war das sehr umstritten, weil es im Grundkurs eine biblische Geschichte als Leitmotiv gibt und im Vertiefungskurs nur die mit einer Hilfskonstruktion (also Übergang von den Hauptworten zu Partizip Perfekt Passiv-Wendungen) gemachte Meditation der Beichte. Das war nicht so leicht zu vermitteln und klang ein wenig fromm: "gesegnet", "begabt." Und bei "begabt" war die Gabe dann auch noch das Abendmahl!

Peter Godzik 2006 im Interview mit Reimer Gronemeyer

Vorwort 2012

Wer Sterbende begleitet, wird selber tief berührt und existentiell herausgefordert. Der eigene Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist zu bedenken. Die eigenen ungelösten Fragen tauchen auf. Nur wer selber spürt, dass Lasten da sind, die abgelegt werden müssen, wird Sterbenden in ihren geistlichen Nöten nahe sein können.

Welche Bilder vom Leben und Sterben tragen wir in uns, wovon träumen wir? Was, glauben wir, kommt nach dem Tod? Ist der Himmel leer, wie viele meinen, oder gibt es Vorstellungen, die unser Leben bereichern und unser Sterben erleichtern? Geht es nicht auch im Sterben darum, umgestaltet und neu gemacht zu werden? Zurück bleibt unsere körperliche Hülle, die Seele hat sich auf den Weg gemacht. Wohin?

Die Erfahrung lehrt, dass Bilder helfen, den Blick nach vorn zu richten - nicht eines, sondern viele. Es geht ja nicht um eine starre Ideologie oder meine persönliche Glaubensüberzeugung, son­dern um ein Angebot, einen Deutungshorizont, den der andere beschreiten und für sich ergreifen könnte. Vielleicht will und kann er nicht nach vorn schauen, dann ist das auch in Ordnung. Aber vielleicht ergreift er so ein Bild und malt es sich aus - im wahrsten Sinne des Wortes. Kunsttherapeutinnen arbeiten manchmal so mit Sterbenden: Sie las­sen sie ihre Bilder malen oder, wenn sie das schon nicht mehr können, ein Bild aus­wählen. So gestärkt mit einem inneren Bild geht ein sterbender Mensch seinen eigenen Weg unvertretbar durch das Tor hindurch.

Wir sind nur staunende Begleiter mit unserem Mitgefühl, unserem liebevollen Blick, unserer gewachsenen Erfahrung. Und wir wissen genau: Die eigentliche Bewährungsprobe unserer womöglich vielfältig erworbe­nen Kompetenz kommt noch, wenn wir selber gerufen werden an die Schwelle des Lebens.

Gerufen, gefragt, bedacht, bekannt, gelöst, erfüllt, gesegnet, begabt - so heißen die Schritte in unserem Buch zur Vorbereitung für Angehörige, Freunde und Ehrenamtliche in der Sterbebegleitung. So stirbt man nicht, jedenfalls nicht immer und nicht immer so leicht - das wissen wir. Aber so kann man sich auf das Sterben vorbereiten, um Haltung zu trainieren - herzlich und zugewandt, aufmerksame Mitmenschlichkeit in der jeweiligen Profession und Begabung, die wir ans Sterbebett mitbringen.

Mit diesem Buch möchten Herausgeber und Verlag erreichen, dass Menschen, die als Angehörige, Freunde oder Ehrenamtliche bereit sind, schwerkranken und sterbenden Menschen nahe zu sein, in die Lage versetzt werden, ein geeignetes Buch für ihre persönliche Vorbereitung auf die existentiellen Herausforderungen in der Sterbebegleitung zur Verfügung zu haben und an ihrer persönlichen Haltung zu arbeiten. Gerade in solchen Fällen hat sich die vorliegende Sammlung besonders bewährt.

Schleswig/ Rosengarten, im Frühjahr 2012            Peter Godzik