Im selben Augenblick, in dem die Emmaus-Jünger Jesus erkennen, entschwindet er. Er läßt sich nicht festhalten. Als Maria aus Magdala versucht, ihn zu umklammern, bittet er sie: "Rühr mich nicht an!" Zum Leben gehört das Abschiednehmen. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, und der Tod fordert mehr als alles andere unsere Fähigkeit heraus, Abschied zu nehmen und loszulassen.
Wir wissen nicht, in welcher seelischen Verfassung Jesus gestorben ist. Die Evangelien enthalten unterschiedliche Versionen der letzten Augenblicke Jesu. Nach Markus und Matthäus starb Jesus mit einem lauten Schrei, nachdem er zuvor gerufen hatte: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Nach Lukas sagte Jesus: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Nach Johannes lauten die letzten Worte Jesu: "Es ist vollbracht!" Verzweifeltes Aufbäumen oder stille Ergebenheit - wir wissen es nicht. Das ist gut so. Denn so wissen wir nicht, wie "man" als Christ in der Nachfolge Jesu zu sterben hat. Ob wir mit einem Schrei sterben werden oder in stiller Ergebenheit ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß einer unser Fallen "unendlich sanft in seinen Händen hält" (Rilke).
Alle großen Religionen, und vor allem die mystischen Strömungen aller Religionen, sehen das Loslassenkönnen als das wichtigste Ziel des Lebens. Die klassischen spirituellen Disziplinen (schweigendes) Gebet, Fasten und Almosengeben sind Einübungen ins Loslassen - und damit Einübung ins Sterben.
Christen verstehen ihr Leben als Pilgerweg und Wanderschaft durch ein fremdes Land: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige" (Hebr. 13,14). Wer bei einem Sterbenden wacht, meditiert dabei gleichzeitig die eigene Vergänglichkeit und bereitet sich auf das eigene Sterben vor.
Das berühmte Gedicht "Stufen" von Hermann Hesse (1877-1962) ist eine Einladung, das Leben als Reise zu verstehen, auf der wir nirgends ganz heimisch werden können. Der Religionspädagoge Otto Betz gibt Hinweise, wie das Abschiednehmen zu erlernen ist. Ähnliche Gedanken macht sich Jörg Zink.
Schweigen, Fasten, Beten sind Übungen im Loslassen. Viele Menschen sehnen sich heute nach Anleitung, ein "fruchtbares Schweigen" neu zu erlernen. Der Benediktiner Anselm Grün gibt Einblick in seine klösterliche Erfahrung.
Auch das Fasten ist eine Übung, die heute wiederentdeckt wird. Immer mehr Menschen verstehen den Zusammenhang von Leib, Seele und Geist. Seelische Erkrankungen können körperliche Ursachen haben - und umgekehrt. Das Fasten macht nicht nur den Körper leichter. Es wirkt sich auch auf Seele und Geist gesundend aus:
"Eine Art Lösung und Lockerung verkrampften seelischen Gefüges ist erkennbar, eine Klärung der Lage und eine höhere Feinfühligkeit. Das analytische Denken ist anfangs erschwert, die Intuition vertieft und erleichtert. Zu Anfang des Fastens erleben wir einen kurzen, aber deutlichen Pendelschlag der Gemütslage nach der depressiven Seite. Dann einen deutlichen Ausschlag nach dem Gegenteil, der manischen Seite: wir finden erleichterte Gedankenabläufe, erhöhte seelische Produktivität. Neben der stärkeren Sensibilisierung ... erfahren wir auch gelegentlich glatte Lösungen neurotischer Verkrustungen; der wahre Kern kommt heraus, es ist ein Zusichselberkommen. Der innere Ruhepunkt, das Meta-Zentrum ... wird entdeckt, eben die innere Heimat." (Otto Buchinger sen.)
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