zusammengestellt von Christine Denzler-Labisch
Wer schwerkranke, sterbende Menschen begleiten will, muß auch der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit ins Gesicht sehen. Jeder von uns muß am Ende seines Lebens von vielem, ja von allem Abschied nehmen, ich muß loslassen, was mir wichtig ist. Abschied von Menschen, Dingen, Fähigkeiten. Sicher, ich kann mich als Begleiter nie ganz in die Situation eines Sterbenden hineinversetzen, doch ich bin sicher, daß ich den letzten Weg eines Menschen besser mitgehen kann, wenn ich mir selbst Gedanken mache, Gefühle zulasse und nachspüre, was mit mir geschieht, wenn ich etwas aufgeben, hergeben, abgeben muß.
Die nachfolgende Übung ist eine Möglichkeit, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, sich bewußt zu machen, was es heißt, loszulassen, sich einzustellen auf eine absolute Ungewißheit. Sie will helfen, den Sterbenden besser verstehen zu lernen und kann zu einem bewußteren Leben im Hier und Jetzt hinführen.
Vorbereitung:
Die Teilnehmer können sowohl im Stuhlkreis als auch an Tischen sitzen. Wichtig ist, daß Sie diese Übung ankündigen als Möglichkeit, sich mit der eigenen Endlichkeit zu befassen. Dabei ist der Hinweis notwendig, daß diese Übung freiwillig und anonym ist und jede(r) die Möglichkeit hat, so mitzugehen, wie er / sie mitmachen will oder kann.
Während der Übung soll nicht gesprochen werden.
Übungsablauf:
Jede(r) TeilnehmerIn erhält 5 Zettel, auf die er / sie folgendes notieren soll (lassen Sie den Teilnehmern dafür genügend Zeit):
Als Einstimmung Lied vorspielen: z.B. "Komm großer schwarzer Vogel" oder "Ich will, daß Du es weißt"
Hinweis: Im folgenden Text bedeutet jeder Stern (*) nach den Fragen ca. eine Minute Pause.
Der/die SeminarleiterIn trägt folgenden Text vor:
Ich möchte Sie einladen, sich mit der Person, von der ich jetzt erzähle, zu
identifizieren.
Stellen Sie sich vor, Ihnen geht es gut. Sie fühlen sich wohl in Ihrer Haut. Sie arbeiten, tun das oder jenes und Sie sind im Großen und Ganzen recht zufrieden. Doch immer wieder fällt Ihnen auf, daß Sie so müde sind, so abgespannt und lustlos. Sie schieben Ihre Müdigkeit auf Ihren Streß im Alltag und sind überzeugt davon, daß all die Beschwerden durch genügend Ruhe und Abstand im Urlaub beseitigt werden.
Sie fahren weg - in eine schöne Gegend, wo es Ihnen sehr gut gefällt. Am Urlaubsort machen Sie das, was Ihnen Spaß und Freude bereitet. Sie sind rundum zufrieden. Sie kommen zurück, fangen wieder zu arbeiten an und merken, daß die Müdigkeit und Mattigkeit nicht abgenommen hat, sondern verstärkt auftritt. Jede Anstrengung wird für Sie zu einer Belastung. Nach einigem Zögern entscheiden Sie sich, zum Arzt zu gehen. Er untersucht Sie, nimmt Blut ab. Sie werden geröntgt und mit der Bitte entlassen, in zwei Wochen die Ergebnisse der Untersuchungen abzuholen.
Nach dieser Zeit gehen Sie zum Arzt. Sie sprechen mit ihm und er sagt Ihnen, daß er leider keine gute Nachricht für Sie hat, und daß die Heilungsmöglichkeiten Ihrer Krankheit nicht sehr groß sind.
Stellen Sie sich Ihre Gefühle, Gedanken vor, sie Sie bei dieser Information haben! *
Was sollen Sie machen? *
Mit wem wollen Sie über die Diagnose sprechen? Oder wollen Sie das Ergebnis der Untersuchung niemandem mitteilen? **
Wie werden die anderen reagieren? Was werden Angehörige, Freunde sagen? **
Wo müssen Sie mit Veränderungen, Einschränkungen, Einschnitten in Ihrem Leben rechnen? **
Was müssen Sie aufgeben? Abgeben? **
Welchen der 5 Zettel könnten Sie als ersten abgeben? *
Der/die Leiterin geht nach einer kurzen Pause mit dem Papierkorb herum und lässt den ersten Zettel abgeben.
(Evtl. darauf hinweisen, daß nur ein Zettel abgegeben werden muß. Wenn jemand nicht abgeben will/ kann, so ist das auch in Ordnung.)
Stellen Sie sich vor, der Arzt schlägt Ihnen vor, eine Therapie zu machen. Sie besprechen diese Möglichkeit mit Ihren Angehörigen und entscheiden sich, mit dieser Therapie zu beginnen. Sie gehen ins Krankenhaus, hegen im Bett, bekommen Infusionen und fühlen sich matt und elend. Sie erbrechen sehr viel und sind sehr schwach. Nach einiger Zeit merken Sie, daß Ihnen die Haare ausgehen und Sie leiden sehr unter dieser Situation. Doch Ihr Mut will nicht sinken. Sie kennen sich, Sie sehen sich täglich im Spiegel und wissen, wie Sie aussehen.
Es kommt der Tag der Entlassung und Sie werden von der Klinik abgeholt. Stellen Sie sich vor, Sie kommen heim und erleben, daß sich die Nachbarn und Verwandten anders verhalten. Ja, es kommt sogar vor, daß Sie nicht mehr erkannt werden.
Was denken Sie in diesem Augenblick? **
Sie leben mit vielen Veränderungen. Sie können nicht mehr all das tun, was für Sie vor der Erkrankung möglich war.
Was ist Ihnen nun wichtig? Was ist unwichtig geworden? **
Was könnten Sie als nächstes abgeben? *
Zweiten Zettel einsammeln
Nachdem Sie nun daheim sind und die Fürsorge der Angehörigen und Freunde erfahren, fühlen Sie sich wohl. Sie spüren, daß Ihre Kräfte wieder zunehmen, daß Ihr Gewicht steigt, und daß Ihr Haar wieder wächst. Nach einem Monat gehen Sie zur Kontrolluntersuchung und das Ergebnis ist positiv. Alles ist in Ordnung. Sie freuen sich, machen Pläne und es geht Ihnen recht gut.
Was denken Sie jetzt? **
Welche Hoffnungen, aber auch Ängste, sind da? **
Was ist anders geworden in Ihrem Leben? **
Welche Beziehungen haben gehalten? **
Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen. Sie arbeiten wieder und Ihnen geht es recht gut. Sie haben viel unternommen, Pläne gemacht und Sie fühlen sich wohl. Die nächste übliche Kontrolluntersuchung steht an, und Sie gehen wieder zum Arzt. Der Arzt sagt Ihnen, daß sich Ihr Blutbild leider wieder sehr stark verändert hat und daß Sie wieder in die Klinik müssen.
Mit welchen Gefühlen tun Sie das? **
Welche Ängste sind da? **
Stellen Sie sich vor, Sie liegen wieder im Krankenhaus und Ihnen wird klar, daß Sie wieder viel von dem aufgeben müssen, was Sie in der letzten Zeit tun konnten.
Was vermissen Sie am meisten? **
Welche Ängste, Befürchtungen, Hoffnungen sind da? **
Welchen Zettel könnten Sie jetzt abgeben? *
Dritten Zettel einsammeln
Sie liegen in Ihrem Bett und entschließen sich, wieder eine Therapie zu machen. Ihnen geht es dabei sehr schlecht und Sie merken, daß die Medikamente nicht wirken. Manchmal haben Sie das Gefühl, daß auch die Mediziner hilflos sind.
Sie spüren, wie sich Ihr körperlicher Zustand verschlechtert. Ihre Augen sind blutunterlaufen, die Haare gehen aus, Ihr Zahnfleisch blutet, die Schmerzen nehmen zu. Sie haben immer wieder hohes Fieber und fühlen sich insgesamt sehr elend, schwach und krank. Zu diesem körperlichen Leid kommt hinzu, daß Sie erleben, wie sich das Verhalten Ihrer Umgebung verändert: Die Besucher werden weniger, die Pflegekräfte und die Arzte sind außergewöhnlich freundlich. Man nimmt von allen Seiten her sehr viel Rücksicht auf Sie. Bei der Visite hören Sie, daß die Arzte vor der Tür stehen bleiben und sich unterhalten. Während des Besuchs sind sie übermäßig besorgt und wenn sie das Krankenzimmer verlassen haben, reden sie vor der Tür nochmals.
Was möchten Sie jetzt noch tun? Was ist Ihnen nun wichtig? Welche Personen? Welche Dinge? Welche Ereignisse? **
Welche Gefühle steigen hoch? Ist es Angst, Zorn, Wut, Schmerz, Trauer, Hoffnung, Freude? **
Können Sie "JA" sagen, oder ist viel Auflehnung da? **
Was könnten Sie jetzt abgeben? *
Vierten Zettel einsammeln
Nun spüren Sie selbst: Sie haben nicht mehr lange zu leben. Sie liegen schwach und krank in Ihrem Bett und die Frage stellt sich bzw. wird gestellt: Wollen Sie im Krankenhaus bleiben oder wollen Sie heim?
Sie fragen sich: Kann ich heim? *
Zu wem will, kann, darf ich mit all meiner Not, mit all meiner Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit? **
Wer kann mich aushallen? *
Wem kann ich mich zumuten? *
Welche/n Menschen möchte ich bei mir haben? Wer soll nicht da sein? **
Stellen Sie sich vor, wie Sie spuren, daß Sie dem Tod näher kommen und wie die Verschlechterung Ihres Körpers zunimmt. Sie fühlen, daß Sie sterben werden, daß Sie Abschied nehmen müssen von allem, was in dieser Welt für Sie wichtig war. Sie müssen sich trennen von allen Menschen, von allen materiellen Dingen, von allen Ämtern, Positionen, Möglichkeiten.
Erlauben Sie sich, die Gefühle zuzulassen, die kommen, und setzen Sie sich damit auseinander. **
Letzten Zettel ohne Ankündigung einsammeln.
(Falls jemand noch Zettel behalten möchte, lassen Sie dies zu)
Stellen Sie sich vor, daß Sie im Sterben liegen.
Wer steht an Ihrem Bett? Was werden die Menschen sagen? Wie werden Sie reagieren? *
Wie geht es Ihnen dabei? *
Welche Gefühle haben Sie? *
Was denken Sie, was mit Ihnen bald geschehen wird? Wohin gehen Sie? Ist ein religiöser Gedanke dabei? Vielleicht geht Ihre Seele ins Universum, zu Gott, in die Ewigkeit oder was immer Sie denken? **
Im Augenblick des Todes müssen Sie von allem Abschied nehmen. Sie überblicken in dieser Situation noch einmal Ihr Leben. Lassen Sie sich Zeit dazu:
Was war mein Leben bis heute? Wie bin ich damit umgegangen? Was habe ich daraus gemacht? Was habe ich versäumt? **
Was war schwer in meinem Leben? Wo und warum waren Sorgen, Kümmernisse, Schmerzen da? Wo, wann und warum war ich unglücklich in meinem Leben? **
Was war schön in meinem Leben? Wo und wann waren Momente des Glücks? Was hat mir Freude, Spaß gemacht? **
Bin ich mit meinem Leben zufrieden oder hätte ich manche Weiche anders stellen wollen? **
Überblicken Sie noch einmal Ihr Leben von dem Tag Ihrer Kindheit an, an den Sie sich erinnern können bis heute. **
Einige Minuten leise Meditationsmusik spielen lassen, z.B. "Milky Way", ca. 7 Min.
Das war die Vorstellung vom Abschiednehmen, vom eigenen Tod, aber auch Rückblick auf Ihr Leben. Kommen Sie wieder zurück und freuen Sie sich, daß Sie leben und fühlen Sie sich in dieser Welt wieder zuhause.
Bitte setzen Sie sich in Kleingruppen (ca. 7 Teilnehmer) zusammen und tauschen Sie sich über die gemachten Erfahrungen aus.
Einige Anregungen zum Gruppengespräch:
Nach etwa 30 Minuten treffen sich die Kleingruppen wieder im Plenum.