Das berüchtigte Modell spukt noch in den Köpfen
Andreas Ebert und Peter Godzik (Hrsg.): "Verlaß mich nicht, wenn ich schwach werde". Handbuch zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender. Hamburg, EB-Verlag Rissen, 1993, 320 Seiten, 39,- DM
Welchen Beitrag können Christen zur Sterbebegleitung leisten? Diese Frage stellte die Generalsynode der VELKD vor sechs Jahren. Das Gemeindekolleg der VELKD in Celle wurde beauftragt, zu diesem Thema ein Projekt der Gemeindediakonie zu entwickeln. Im vorliegenden Handbuch sind die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefaßt. Darüber hinaus bietet das Celler Kolleg Kurse für diejenigen an, die Laien in ihren Gemeinden zur Begleitung Sterbender ausbilden können. Das Buch ist sowohl Grundlage für diese Kurse als auch eine Hilfe für diejenigen, die ehrenamtlich, beruflich oder familiär mit Schwerkranken und Sterbenden zu tun haben.
Die Bedeutung psychosozialer Betreuung dieser Menschen hat in unserer Zeit zwar zugenommen. Die Angst der Bevölkerung vor dem Sterben ist deshalb allerdings nicht geringer geworden. Die Autoren des vorliegenden Buches versuchen in ihren Beiträgen, den Fragen und Nöten Sterbender näher zu kommen. Und sie machen praktische Vorschläge. Weil die Menschen immer älter und damit häufiger chronisch krank werden, wächst die Belastung derjenigen, die sie pflegen.
Im ersten Teil des Buches setzen sich die Autoren mit den Themen Sterben und Tod auseinander. Christliches Gedankengut steht bei der Betrachtung der verschiedenen Aspekte im Vordergrund. Vor allem ehrenamtlichen Helfern, denen diese theologische Herangehensweise vertraut ist, dürfte das Buch damit größere Klarheit für die eigene Auseinandersetzung mit dem Sterben bieten. Nichtchristliche Helfer bleiben an vielen Punkten eher ratlos.
Die große Zahl der Autoren mit unterschiedlichen Auffassungen über Sterbebegleitung soll der Vielfältigkeit der Meinungen gerecht werden ? ein fragwürdiger Ansatz in der postmodernen Zeit der Beliebigkeit.
Dem Einführungskapitel liegt die Emmausgeschichte zugrunde. Beistand und Begleitung sind der Kern der Erzählung. In acht Schritten wird der Leser mit der Sterbebegleitung konfrontiert. Die Gliederung ist bürokratisch genau: wahrnehmen - weitergehen - bleiben - loslassen - aufstehen; das wird als seelischer Reifeprozeß bezeichnet. Dabei wird vorausgesetzt, daß alle sterbenden Patienten diese Stadien der Entwicklung durchmachen und schließlich eine positive Einstellung zu ihrem Tod gewinnen. Der Begleiter wird in diesen Prozeß mit einbezogen. So könne er lernen, auf das sich ändernde Verhalten des Schwerkranken einzugehen. Sterben wird also als ein Entwicklungsvorgang beschrieben, der die Annahme des Todes ermöglicht. Die Autoren dieser fragwürdigen Darstellung berufen sich vorwiegend auf die Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross und von deren Schülern.
Der rasante Individualisierungsschub, der unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten kennzeichnet, verlangt auch von Sterbehelfern ein Umdenken. So führt Paul Sporken in seinem Beitrag "Begleiten" zu Recht an, daß jeder seinen eigenen Tod stirbt. Als Sterbebegleiter haben wir höchstens die Möglichkeit, dieses Eigenleben des Sterbenden mit unserem Dabeisein zu unterstützen.
In dem Kapitel "Zuhören" werden Übungen angeboten. Mit dem Sterbenden soll ein "kontrollierter" Dialog geführt werden. Die Wünsche des Sterbenden sind auf vier Dimensionen reduziert: die soziale, die psychische, die körperliche und die spirituelle. Auch hier bemühen die Autoren die Vorschläge von Kübler-Ross. Damit wird Sterben als etwas ganz Normales für den Menschen angesehen und das Schicksal des Sterbenden profanisiert. Kübler-Ross hat ihre Theorien zu großen Teilen auf die Psychotherapie aufgebaut, die für Lebende und nicht für Sterbende entwickelt wurde. Woher wissen wir denn eigentlich, welches die aktuellen Bedürfnisse des Sterbenden sind? Erlernbare Techniken können das einmalige Wahrnehmen und Erleben des eigenen Todes kaum erfassen: Mit ihnen wird höchstens die Angst davor verdrängt.
Die wenigsten Autoren berücksichtigen den jeweiligen Lebenslauf des Sterbenden, das heißt, die Geschichte des "Ichs" und das "Ich" in der Geschichte. Gerade das aber prägt die Einstellung des Menschen zu seinem Sterben.
Zu dem Kapitel "Verstehen" hat Hans-Christoph Piper aus seiner großen Erfahrung als Klinikseelsorger einen ausgezeichneten sachlichen Beitrag über die Sprache des Sterbenden geliefert. Danach ist die Sprache der Befindlichkeit, also die Sprache in Bildern, in Geschichten, in Gleichnissen und Symbolen wichtig. Die verschiedenen Ausdrucksschichten des Sterbenden müssen vom Begleiter mit "sensorischer Befindlichkeit" verstanden werden. Die alltägliche Mitteilungsform haben wir instrumentalisiert, am Sterbebett reicht sie nicht. Die Ausdrucksweise der Wissenschaft berechnet und kalkuliert. Beim Dialog mit einem Sterbenden kommt es aber auf das Unberechenbare, das Zweideutige, das Unaussprechliche an. Sprache, so meint Martin Buber, wird nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch Mehrdeutigkeit lebendig. Dabei kann eine religiöse Dimension anklingen.
Ärgerlich sind in diesem Kapitel die Verallgemeinerungen über den älter werdenden Menschen. Sie widersprechen den Erkenntnissen der gerontologischen Forschung. Das berüchtigte Modell (der Mensch wird zum Ende seines Lebens immer weniger) spukt noch in den Köpfen einiger Autoren. Sie behaupten tatsächlich, daß alte Menschen egozentrisch seien, Offenheit und Neugier ließen nach, alle Sinne kreisten nur noch um die eigenen Körperempfindungen. Pflegende Angehörige dürften daher kranke alte Menschen zurechtweisen ...
Im folgenden Teil des Buches werden literarische Kraftquellen für die Begleitung Sterbender vorgestellt. Anleitungen über das Loslassen gibt Matthias Brefin, Jörg Zink äußert sich zur "Einübung ins Sterben - Einübung ins Leben". Und Richard Rohr beschreibt Vorübungen zur Kontemplation. Fünfzig Seiten bieten praktische Hinweise für den Besuchsdienst und die körperliche Versorgung Sterbender. Hervorzuheben ist der Aufsatz von Christoph Student über die psychische Dimension von Schmerzen. Die Sinnfrage, so Student, entzünde sich am spirituellen Schmerz. Dabei können religiöse Vorstellungen ihre Tragfähigkeit verlieren. Der Beitrag verdeutlicht, daß keine Begegnung mit Sterbenden festen Regeln folgt.
Rudolf Gebhardt reflektiert über die Rolle des ehrenamtlichen Seelsorgers. Die "Ars moriendi" des Mittelalters, also die Erkenntnis, daß das Sterben ins Leben einzubeziehen ist, könnte auch heute noch hilfreich sein. Trotzdem dürfte sich das Sterben damals vom Sterben heute beträchtlich unterschieden haben. Allein der bessere Gesundheitszustand der Menschen, die Feminisierung der Gesellschaft, vielfältigere Bildungsmöglichkeiten, gestalten einen ganz anderen Rahmen für den Tod. Der Autor empfiehlt christliche Symbole, da sie dem Sterbenden Trost brächten. Sterbebegleiter treffen aber in erster Linie auf säkularisierte Menschen, die oft vereinsamt und seelisch gescheitert sind. Lange bevor wir sterben, müssen wir die Beziehung zwischen unserem Leben und der Endlichkeit wahrnehmen, müssen lernen, die Erfahrung sowohl von Vitalität als auch von Sterblichkeit, Grenzsituationen und Leiden auszuhalten. Unsere Haltung dazu ist vor dem Tod gefragt.
Ich kann hier nicht auf alle Kapitel eingehen. Insgesamt läßt sich aber sagen, daß in einigen - zu vielen - Kapiteln der Eindruck vermittelt wird, Sterben sei nur noch mit geschulten Sterbebegleitern möglich. Sterben und Tod werden zum "Problem" stilisiert. Der gesellschaftliche Individualisierungsschub hat vor dem Sterbet [nicht] halt gemacht - da retten sich viele Autoren in Schemata. Trotz ihres großen Umfanges kann die Literatur zur Sterbehilfe nicht über die Verdrängung des Todes hinwegtäuschen.
Die Einstellung zum Tod entsteht nicht erst im Sterbenden. Sie entwickelt sich in seinem Leben. Die Verdrängung der eigenen Endlichkeit hat ihre Ursachen im Egoismus und Narzißmus des postmodernen Menschen. Autonomie und Selbstbestimmung sind zu diesen Haltungen verkommen. Das bedeutet für viele Menschen, daß lange vor ihrem biologischen Tod der soziale Tod ihr Schicksal ist.
Trotz aller Kritik kann ich das Handbuch empfehlen. Es reizt zu kreativem Widerspruch und zum Nachdenken über die Sterblichkeit. Damit kann man nicht früh genug beginnen.
Rezensionen | Lutherische Monatshefte 11/95, S. 41 f.