Großer Gobelin "Der Heilige Franz von Assisi"

Das wichtigste Werk dieser Periode war der meisterhaft ausgeführte große Gobelin "Der Heilige Franz von Assisi", der den vor Vögeln predigenden Heiligen Franziskus zeigt. Die Komposition des Werkes wurde - ähnlich wie in den bereits erwähnten Arbeiten "Hasentanne" und "Eulenbaum" oder "Katzen" - um eine symmetrische Vertikalachse angeordnet, womit gleichzeitig der vertikale Charakter des Gobelins unterstrichen wurde. Die zentrale Gestalt der Komposition bildet der monumental dargestellte Heilige, der einem Felsen oder Baum ähnelnde demütige Gottesdiener. Barfuß in eine braune Kutte gekleidet predigt er nicht nur für die Vögel, sondern auch für Fische und andere Tiere. Der Heilige Franziskus und Antonius scheinen eine Person zu bilden, die Himmel, Erde und Wasser symbolisieren und die Welt mit Liebe erfüllen. Nach der Legende war es der Heilige Antonius aus Padua, der vor Fischen predigte, Fische zu sich rief und sprach: "Kommet Fische, die Stimme des Herrn zu hören, da Menschen dessen nicht würdig sind."

Die kunstvolle Stilisierung der den Heiligen umgebenden Tiergestalten wie auch die von der Farbgebung erzeugte Stimmung verursachen, dass die Legende überzeugender wird. Aus dem Gobelin strahlt die schöne Melodie der Predigt des Mönches von Assisi, in deren Inhalt die Worte enthalten sind: "Vögel, meine Geschwister, sehr verbunden seid ihr Gott, eurem Schöpfer und sollt immer und allerorts sein Lob singen." Wie die Schrift besagt, freuten sich die Vögel, indem sie ihre Flügel ausbreiteten, die Schnäbel öffneten und ins Hören versunken den Heiligen anschauten. Am Ende segnete sie der Heilige mit dem Zeichen des Kreuzes und erlaubte ihnen weiterzufliegen.

Die Farbgebung der Arbeit ist in Grau-, Braun- und warmen Grün- wie Ockertönen gehalten. Im Zentrum der Komposition dominiert ein tiefes Braun und vom Gewand des Heiligen fließt eine blaue Grauheit der Krone aufgewühlter Meereswellen herab. Darunter zeichnen Pelikane in Hellrosa und schneeweiße Gänse vor dem Hintergrund warmer Grün- und Ockertöne den Vordergrund der Komposition ab. Über ihnen erscheinen gelb-beige Brustwölbungen von Seehunden, die das tiefe Braun der zentralen Partie aufhellen. Über den blaugrauen Meereswellen, über Franziskus' Kopf erheben sich die Komposition abschließend leicht goldene und braune Vögel. Das Ganze wird von einer dekorativen Bordüre gesäumt. Das Werk strahlt die Kraft des Glaubens und die Freude des Lebens ebenso wie Gleichgewicht, Ruhe und Zeitlosigkeit aus. Signiert wurde es von der Autorin in der unteren Bordüre mit gewebten Buchstaben WB unter Angabe des Entstehungsjahres 1914. Noch im gleichen Jahr stellte man den Gobelin in Köln auf der vom Deutschen Künstlerbund organisierten großen Ausstellung "Deutsche Form im Kriegsjahr" vor.

Später gelangte der Gobelin in die Sammlung des berühmten Kunstmäzens Albert Neisser und seiner Frau Toni in eine Neorenaissance-Villa in Breslau. Über viele Jahre hinweg bildete er einen Hauptakzent der Bibliothek. Nach dem Tod der Eigentümer wurde die Villa 1918 samt Ausstattung und Kunstwerke - dem testamentarischen Wunsch der Familie Neisser folgend - vom Schlesischen Kunsthandwerk- und Altertummuseum, dessen Direktor der Archäologe und Historiker Karl Masner war, übernommen. Den Raum, in dem "Der Heilige Franziskus" auch weiterhin ausgestellt wurde, nannte man nun das "Kunstgewerbliche Zimmer"; 1925 erwarb der Museumsdirektor das Werk für die ständige Sammlung, die er nach eigenem Entwurf gestaltete. Wie zahlreiche andere Werke auch wurde der Gobelin von Wanda Bibrowicz nach der Bombardierung des Handwerkmuseums (der Neisser-Villa) während des Zweiten Weltkrieges zerstört und ist heute nur aus der Ikonographie bekannt.

1926 - in der Dresdener-Periode - webte die Künstlerin in den Pillnitzer-Werkstätten eine Replik dieser Arbeit. Die Komposition wurde mit einer Signatur in der unteren Bordüre ausgestattet. In der oberen linken Ecke wurde die Jahresangabe 1914 und in der oberen rechten das Jahr 1926 eingewebt. Heute befindet sich die Replik des Gobelins "Der Heilige Franziskus" in den Beständen des Museums für Kunsthandwerk in Pillnitz.

Ewa Maria Poradowska-Werszler