Theologisches Wahrnehmen und Denken ist sehr stark von den partikularen Erfahrungen beeinflußt, die Frauen und Männer auf je verschiedene Weise in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft, Kirche und Religion machen.
Feministische Theologie geht dabei von den Erfahrungen der Frauen aus und ist besonders den Frauen und ihren spezifischen Lebenserfahrungen verpflichtet. Angeblich geschlechtsneutrale theologische Aussagen (z.B. über Sünde und Erlösung) müssen anhand der Erfahrungen von Frauen kritisch überprüft und neu formuliert werden.
Unter diesem grundlegenden Anspruch der Feministischen Theologie haben sich eine Reihe von neuen Forschungsansätzen und Fragestellungen in der Theologie ergeben, die dazu führten, daß jahrelang eigentlich nur noch im Bereich der Feministischen Theologie spannende und neue Thesen in kreativer Weise erarbeitet wurden.
Feministische Theologie entfaltete sich als breite Bewegung von Frauen, die mit ihren verschiedenen Erfahrungen in verschiedenen Kontexten, Lebens- und Arbeitssituationen, Gruppenzugehörigkeiten und Wissensarten endlich theologisch zu Wort kamen.
Die Männer waren dabei zunächst nur die erstaunten Zuhörer - bis sie begriffen, daß auch ihre Sache hier verhandelt wird: die Auseinandersetzung mit der weiblichen und kreativen Seite ihrer eigenen Existenz, die Betonung der Erfahrungsbezogenheit der Theologie gegen alle leere Orthodoxie.
Schon Luther hatte ja gewarnt: "Ihrer sind viele, die Gott mit lauter Stimme preisen, mit kostbaren Worten predigen, viel von ihm reden, disputieren, schreiben und malen, viele, die sich über ihn Gedanken machen und durch die Vernunft nach ihm trachten und spekulieren, dazu viele, die ihn mit falscher Andacht und Willen erheben" (WA 7, 554) und demgegenüber am Beispiel der Gottesmutter Maria die Bedeutung der Erfahrung hervorgehoben, "außerhalb derer nichts gelehrt wird als nur leere Worte und Geschwätz" (WA 7, 546).
Freilich hinderte diese Ermahnung aus berufenem Munde die Männer nicht daran, die ausdrückliche Bezugnahme auf Frauenerfahrungen zum zentralen Angriffspunkt in den Auseinandersetzungen um die Feministische Theologie zu machen. Von verschiedenen (männlichen) theologischen Positionen her wurde (und wird) der Feministischen Theologie vorgeworfen, sie sei entweder unwissenschaftlich oder unchristlich, subjektivistisch oder horizontalistisch, ideologisch oder unpolitisch, sie bevorzuge biologistisch das weibliche Geschlecht oder sei das Hobby ohnehin privilegierter Mittelschichtsfrauen, sie verkürze und verflache die christliche Offenbarung, sie überschreite die Grenzen legitimer Theologie.
Dabei wird von den Kritikern wohlweislich übersehen, daß auch eine mit dem Anspruch auf Orthodoxie sich legitimierende Theologie verstrickt ist in eine Reihe von theologischen Aussagen, die auf dem partikularen Erfahrungshintergrund einer Gruppe von Männern formuliert und interpretiert sind und die die anders lautenden Erfahrungen von Frauen nicht zu Wort kommen lassen.
Das war ja urchristlich schon so und hat sich dann in der Geschichte der Kirche fortgesetzt. Kritiker, die die Wissenschaftlichkeit einer erfahrungsorientierten Feministischen Theologie mit Berufung auf wissenschaftliche Objektivität und Neutralität bestreiten, lassen außer acht, daß jede Wissenschaft von ihren Entstehungsbedingungen her beeinflußt ist und es daher gerade eine Frage wissenschaftlicher Redlichkeit ist, die zugrundeliegenden Erfahrungen und leitenden Interessen zu benennen.
Ich breche die grundsätzlichen Überlegungen zur Erfahrungsbezogenheit der Theologie an dieser Stelle ab, erinnere an ein Wort von Tiemo R. Peters ("Theologie hat eher mit Fahren und Gefahren, d.h. Er-fahrung, zu tun als mit Sitzen, Katalogisieren und Rubrizieren") und wende mich einem biblischen Beispiel von Frauenerfahrung und Frauensolidarität zu, das Folgen für das Gottesverständnis und das erfahrungsbezogene Verstehen von Theologie gehabt hat. Ich meine die Geschichte von Ruth und Noomi, wie sie uns im Buch Rut überliefert ist.
Noomi und Ruth werden zunächst nur in Verbindung mit ihren Männern genannt: Noomi als Frau des Ephrathiters Elimelech aus Bethlehem in Juda, der angesichts einer Hungersnot in Juda mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen ins Land der Moabiter zieht, aber bald darauf verstirbt und seine Frau als Witwe mit den beiden Söhnen zurückläßt; Ruth als junge moabitische Frau, die wie ihre Landsmännin Orpa einen der beiden Söhne von Noomi und Elimelech heiratet. Zehn Jahre lang leben sie in familiärer Gemeinschaft, ohne daß wir viel über ihr Leben erfahren. Dann sterben auch die beiden Söhne Machlon und Kiljon und lassen die drei Frauen unversorgt zurück. Es ist eine bittere existentielle Krise, die sie durchleiden. Noomi, deren Name eigentlich "die Liebliche" bedeutet, läßt sich später in Bethlehem von den Frauen der Stadt "Mara" nennen, was "die Bittere" heißt, weil Gott ihr so viel Bitteres angetan hat.
Aber diese eigenen schlimmen Erfahrungen bringen sie doch nicht davon ab, auch weiterhin Gott in ihrem Leben zu vertrauen. Sie macht sich mit ihren beiden Schwiegertöchtern Orpa und Ruth auf den Weg, um nach Juda zurückzukehren, denn sie hat in der Fremde erfahren, daß Gott sich seines Volkes wieder angenommen und ihnen Brot gegeben hat. Bethlehem, ihre Heimatstadt, macht ihrem Namen - "Haus des Brotes" - wieder alle Ehre, und es gab keinen Grund, die eigene, persönliche Erfahrung mit Niederlagen und Unglück höher und größer zu veranschlagen als die Erfahrungen eines Volkes, das den Verheißungen Gottes vertraute und auch durch Bitterkeiten hindurch an seinem Vertrauen auf die Zusagen Gottes festhielt.
Erfahrungstheologie, so lernen wir, heißt nicht, die eigenen Erfahrungen zu verabsolutieren, sondern sie hineinzuretten in einen größeren Zusammenhang und von dort her Heilung und Veränderung zu erfahren.
Noomi, die die Realitäten ihres Lebens kennt und sich "die Bittere" nennen läßt, verbittert nicht, sondern bricht auf zu dem Gott, der die Geschichte ihres Volkes immer wieder getragen und gerettet hat aus tausend Abgründen heraus. Sie nimmt ihre beiden Schwiegertöchter mit, aber sie erkennt unterwegs, daß es Unrecht wäre, diese jungen Frauen an ihre eigene Lebenserfahrung zu binden, an diese Mischung aus nüchternem Realitätssinn und unzerstörbarer Hoffnung auf den Gott Israels. Sie sollen ihren eigenen Weg gehen, ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie wünscht ihnen den Segen Gottes: Er möge ihnen die Barmherzigkeit schenken, die sie selber getan haben an ihren Männern und auch an ihr, der von so viel bitterer Lebenserfahrung heimgesuchten Schwiegermutter.
Wir wissen nicht viel über Noomis Gottesverständnis, aber es hat etwas mit ihrer weiblichen Wirklichkeit zu tun: Sie hat einen Gott vor Augen, der trotz allem, was ihr widerfahren ist, barmherzig ist; der wohl einen einzelnen Menschen traurig macht und mit leeren Händen heimkommen läßt; der sich aber seines ganzen Volkes annimmt und ihm Brot zu essen gibt. Angesichts des Bitteren in ihrem eigenen Leben bleibt sie nicht stecken in einer anklagenden Rede von einem schrecklichen und strafenden Gott; sondern sie spricht von Gott so, wie sie ihn auch kennt: daß er in all dem Bitteren wie eine Mutter ist: barmherzig, annehmend, nährend. Sie kennt all diese Eigenschaften aus eigener Erfahrung: an sich selber und an ihren Schwiegertöchtern, die ihr wie eigene Töchter ans Herz gewachsen sind.
Zu diesem Gott macht sie sich auf, nimmt ihre Schwiegertöchter mit und läßt sie doch im entscheidenden Moment ganz los: "Kehrt um, geht zurück zu euren Müttern; vielleicht findet ihr wieder einen Mann, der für euch sorgt und in dessen Haus ihr Ruhe finden könnt. Laßt euch nicht einschließen in das Lebensschicksal einer Witwe, wie ich eine bin."
Wir lernen daraus, wie wichtig es ist, die eigene Lebenserfahrung und die damit verbundenen theologischen Konsequenzen nicht anderen aufzuladen und für sie verbindlich zu machen. "Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war", schreibt Tilmann Moser zu Beginn seines großartigen Buches "Gottesvergiftung".
Noomi hatte allen Grund, verbittert zu sein und Gott anzuklagen. Sie tat es nicht, sondern hielt dem Bitteren in ihrem Leben stand und machte sich auf zu dem Gott, der herzlich annimmt und tägliches Brot schenkt. Sie kannte das Los einer Witwe in Israel und wollte nicht, daß sich ihre Schwiegertöchter mit ihrer Fähigkeit, Menschen zu lieben und neues Leben zu schenken, einschließen. Wie sollen wir diese Theologie nennen, die gegen alle eigenen Erfahrungen Gott vertraut, niemanden bindet und allen das Beste wünscht? Feministische Theologie!
Orpa hat damals diese Ermutigung zur Umkehr und zur freien Entscheidung angenommen. Sie hat Noomi geküßt und hat geweint und ist in ihr eigenes Leben gegangen. Wir wissen nicht, was aus ihr geworden ist und welchen unauslöschlichen Eindruck sie von Noomi in ihrem Herzen behalten hat. Wer so geliebt und so freigelassen wird, vergißt das nie.
Ruth entscheidet sich anders. Sie bleibt bei Noomi: bei ihrem Mut, sich aufzumachen gegen alle bisherige bittere Erfahrung; bei ihrem Vertrauen, eine Zukunft zu finden und dort für immer zu bleiben; bei ihrem Volk, das sie bisher nur durch einige wenige Menschen kennen- und lieben gelernt hatte; bei ihrem Gott, dessen Barmherzigkeit sie nur erahnen konnte in dem tiefen Vertrauen, das Noomi ihm entgegenbrachte auch durch die Erfahrung des krassen Gegenteils hindurch.
Ruth antwortet damals: "Rede mir nicht ein, daß ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden."
Frauenerfahrung und Frauensolidarität, Theologie der Frauen als Grundlage jeder verläßlichen menschlichen Beziehung - darauf stützen wir uns, das rufen wir wieder an, wenn wir junge Brautpaare, Männer und Frauen, für ein gemeinsames Leben vor dem Traualtar zusammensprechen.
Aber nicht genug damit, obwohl das schon viel wäre für die Verbesserung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Ruth entdeckt diesen Gott, den Noomi ihr vermittelt und nahe gebracht hat, durch eigene Erfahrung: Sie hört von ihm, nimmt ihn beim Wort, vertraut sich ihm an auch in einer riskanten Situation und macht die Erfahrung lebendigen Segens. Das heißt eigentlich Erfahrungstheologie: wenn das Reden von Gott sich verwandelt in eigenes gelebtes Leben.
Sie alle kennen die Geschichte: Ruth geht auf's Feld und liest die Ähren auf zur Zeit der Gerstenernte in der Hoffnung auf einen, vor dessen Augen sie Gnade findet. Sie gerät auf das Feld des Boas. Er sieht sie freundlich an und lädt sie ein zu bleiben, obwohl er doch das Gesetz kennt in Israel, das vorschreibt: "Du sollst nie den Frieden der Moabiter suchen noch ihr Bestes dein Leben lang. Denn sie sind euch auch nicht entgegengekommen mit Brot und Wasser auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt." (5. Mose 23,5.7)
Boas fällt aber angesichts der Moabiterin Ruth nicht das abweisende und fremdenfeindliche Gesetz ein, sondern ein beziehungstiftendes, ein mütterliches Bild von Gott: "Du bist gekommen zu dem Gott Israels, daß du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest." (Ruth 2,12)
Ruth hört diese Rede und möchte, daß sie im konkreten Verhalten des Boas Wirklichkeit wird: "Laß mich Gnade vor deinen Augen finden, mein Herr; denn du hast mich getröstet und deine Magd freundlich angesprochen." (Ruth 2,13) "Wer sagt, daß er Gott liebt, und haßt seinen Bruder und seine Schwester", heißt es später im 1. Johannesbrief, "der ist ein Lügner." (1. Johannes 4,20)
Erfahrungstheologie, so lernen wir, vertraut nicht nur auf eigene und vor allem auf fremde Erfahrungen, sie macht liebevolle Erfahrungen überhaupt erst und auch erfahrbar für andere. Vielleicht ist das sogar das wichtigste Kennzeichen eines vertrauenden Glaubens: nicht daß ich geliebt werde, sondern daß ich liebe ...
Aber nicht genug damit, daß Ruth die praktischen Konsequenzen eines liebevollen Gottesverständnisses von Boas erbittet, sie wagt es selber zuvor sich darauf zu verlassen, daß es solche praktischen Konsequenzen auch tatsächlich geben wird. Gestützt und gestärkt von ihrer Schwiegermutter Noomi nimmt sie Boas beim Wort: "Du bist gekommen zu dem Gott Israels, daß du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest." Sie läßt Boas Gottes Hände und Füße sein und kriecht zu ihm unter die Decke. Sie vertraut darauf, daß er es ernst gemeint hat und mit seiner Person dafür einsteht, was er glaubt und sagt.
Auch das ist Erfahrungstheologie: das unbedingte Vertrauen auf die Konkretheit und Wahrhaftigkeit des bezeugten Glaubens. Erst im Leben, im wirklichen gelebten Leben, wird wahr, was wir sagen und glauben. "Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände, um seine Sache heute zu tun ..."
Erfahrungstheologie erfährt so eine wichtige Ergänzung und Korrektur: Nicht erst aufgrund bestimmter Erfahrungen kann ich glauben und vertrauen, sondern weil ich glaube und vertraue, mache ich bestimmte Erfahrungen. Alles das läßt sich von Ruth lernen. Sie empfängt ein Kind und wird die Urgroßmutter des Königs David und damit eine der Urahninnen Jesu.
Die Geschichte von Rut und Noomi, die in ihrer Liebe zueinander und in ihrem Vertrauen zu Gott den Löser finden, der ihr Leben verwandelt, bekommt am Ende eine besondere Wendung dadurch, daß die anderen Frauen sich mitfreuen und Noomi von Herzen gönnen, was ihr widerfahren ist. Kein Neid, keine Mißgunst, keine üble Nachrede trübt das endlich gefundene Glück. "Gelobt sei der Herr, der dir zu dieser Zeit einen Löser nicht versagt hat! Dessen Name werde gerühmt in Israel! Der wird dich erquicken und dein Alter versorgen. Denn deine Schwiegertochter, die dich geliebt hat, hat ihn geboren, die dir mehr wert ist als sieben Söhne." (Ruth 4,14-15)
Eine Schwiegertochter, die mehr wert ist als sieben Söhne! Der Wert eines Menschen hängt nicht an seinem Geschlecht, sondern an dem Maß der Liebe, zu dem er, zu dem sie fähig ist.