Und Jesus ging umher im ganzen galiläischen Lande, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheit und alle Gebrechen im Volk (Matthäus 4,23).
Die Evangelien berichten übereinstimmend davon, dass kranke Menschen in der Nähe Jesu gesund geworden sind. Offenbar ging eine Kraft von ihm aus, die andere heilte. Allerdings legen schon die Wundererzählungen der Evangelien nahe, alle Aufmerksamkeit auf den Wundertäter selbst zu richten und ihn für sein Handeln anzustaunen. Uns modernen Menschen fällt es schwer, diese gläubig-verehrende Haltung anzunehmen. Zu tief sitzt der Zweifel, ob das wirklich alles so geschehen sein kann, wie es berichtet wird: erstaunliche Wunder, die eine Durchbrechung von Naturgesetzen zu enthalten scheinen. Das alles ist nur schwer mit unserem neuzeitlichen Wahrheitsbewußtsein in Einklang zu bringen.
Eine nähere Beschäftigung mit den Heilungsgeschichten der Evangelien bringt aber eine erstaunliche Entdeckung: Es geht gar nicht in erster Linie um das Wunder einer Durchbrechung von Naturgesetzen, sondern um das Wunder der Verwandlung und Neustiftung von Beziehungen. Nicht nur der Wundertäter selbst ist wichtig, sondern vor allem auch die Menschen, an denen er handelt, und ihr Glaube. "Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen", sagt Jesus mehrfach und macht damit deutlich, dass es nicht nur an ihm liegt, wenn Menschen in seiner Nähe gesund werden.
Für uns Heutige ist das von großer Bedeutung. Wir können entdecken, dass wir selber in diesen Wundergeschichten vorkommen, dass es um unsere Ängste und Verkrampfungen geht, die der Gottessohn heilen und zurechtbringen will, wenn wir uns nur öffnen für seine lebensspendende und heilende Kraft. Ich glaube, dass wir eine ganz neue Beziehung zu den Wundergeschichten entwickeln müssen. Nicht so, dass wir einen übermächtigen Wundertäter anstaunen und dann die Abwesenheit seiner Kraft in dieser Welt beklagen, sondern so, dass wir uns selber entdecken in diesen Geschichten, unseren heimlichen Schaden, und uns verwandeln lassen von seiner Liebe.
Könnte es nicht sein, dass die Kehrseite einer naiv-gläubigen Verehrung des Wundertäters eine tiefe Skepsis und Ungläubigkeit ist, ich selber könnte betroffen und gemeint sein? Immer geht es um andere, die blind, taub und gelähmt waren und die in der Nähe Jesu gesund geworden sind. Nie bin ich es selber, der mit seiner eigenen Krankheit gemeint ist in den Heilungsgeschichten des Neuen Testaments. So denken wir, Wunder - ja, früher mag es die gegeben haben, als der Christus noch unter den Menschen weilte, aber heute geschieht das nicht mehr, heute verlassen wir uns lieber auf die medizinische Wissenschaft, auf das, was wir sehen, begreifen und erklären, vielleicht auch einmal bessern und verändern können.
Ich möchte den Blick darauf lenken, dass in den Wundergeschichten der Evangelien eine Dynamik steckt, die auch noch heute von Bedeutung ist und uns verwandeln kann, wo wir krank und verängstigt sind, unheile Menschen in einer unheilen Welt. Gott will uns auch heute noch heil machen, wenn wir uns nur öffnen für seine Nähe.
Aus: Peter Godzik, Das Wunder, heil zu werden. Biblische Anregungen für die "Gesundheitserziehung", in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 93 (1985) 58-62.