Im Neuen Testament finden wir folgende Typen von Mahlgemeinschaften:
"Das Eigentümliche besteht darin, daß Jesus Tischgenossenschaft mit sozial geächteten Außenseitern hält, mit Menschen also, deren tägliches Brot Trennungserfahrungen, gestörte soziale Objektbeziehungen sind. Sie erleben an ihm akzeptierte Gemeinschaft, die ihr Leben offenbar wandelt und es, wie es scheint, auch ohne ihn weiter in Gang hält." (Kühnholz 388f)
"in denen die Tischgemeinschaft Jesu imitierend fortgesetzt wird. Es geht nach Ostern gleichsam einfach weiter, als stünde die Auseinandersetzung mit der Trennung von Jesus noch vor ihnen, als werde sie also geleugnet oder schon hinter ihnen, wie wir das heute noch beim Leichenschmaus erleben. Man wird erinnert an manche Trauernde, die noch Jahre nach dem Verlust eines Nahestehenden den Tisch so decken und die Mahlzeit peinlich genau so halten, als wäre er noch da, was Spiegel MumifizierungVermächtnis
"In diesem manischen Trauerverhalten kann sich der Trauernde auf den Verlust nicht einlassen, er verstößt den Verstorbenen oder wünscht ihm gleich zu sein. Es kann, wie die urchristliche Entwicklung der Eschatologie zeigt, die Ruhe vor dem Sturm der Trauer sein, es kann aber auch eine Störung sein. Vielleicht hat sich deshalb auch dieser Mahltyp in der Urchristenheit nicht durchgesetzt." (Kühnholz 390)
"In diesem außergewöhnlichen Ereignis stemmen sich die Jünger gegen das traurig machende Eingeständnis seines Todes und rühren durch keine fragende und deutende Interpretation daran, sondern versichern sich der ungebrochenen Gemeinschaft mit dem großen Herrn und untereinander. Sie suchen ihn über das Trennungsgefühl hinweg festzuhalten und lassen sich von ihm gleichsam den Mund ihres Kummers stopfen. Dennoch kündigt sich in der Erfahrung, daß Jesus sich so, wie er erschien, auch wieder entzieht, auch die Einsicht in die Realität des Verlustes an. Was Trauernde in ihren Wahrnehmungsstörungen, dem Abbau der Realitätskontrolle, im Dienste der Trauerarbeit erleben, geschieht auch in diesen Erscheinungsmahlen." (Kühnholz 390)
"Der Grundgedanke ist dabei die sakramentale Kommunio, die dadurch gegeben ist, daß sich die Feiernden durch den Genuß von Brot und Wein den Leib und das Blut Jesu einverleiben. Aber nicht nur seinem Verlust, sondern allgemeinen Trennungsängsten wird hier durch orale Regression begegnet. Dazu passen auch die wenigen Einzelheiten, die wir über den Rahmen dieser sakramentalen Feiern kennen. Offenbar beginnt der Ritus mit dem brüderlichen Liebesbeweis des heiligen Kusses. Es folgt die Aufforderung: wer den Herrn in gleicher Weise liebt, möge kommen, wer nicht, möge gebannt sein. Dann legen sich die vom Herrn Verlassenen an den Tisch des Herrn (1. Kor 16,21) und flehen: "Komm jetzt, Herr!", man möchte fortsetzen: "Wir haben Hunger nach dir!" Jetzt erhalten sie von dem heiligen Weinstock (Apk 22,16) bzw. dem Lebensholz (Apk 2,7; 22,14.19) - bekannten Muttersymbolen - das verborgene Manna (Apk 2,17) und das Lebenswasser (Apk 22,17). Ich denke, jedem kann sich diese Szene verdichten zu der menschlichen Urszene, in der Mutter und Säugling in der Nahrung miteinander verbunden sind. Der Säugling weiß sich ja (vermutlich) wie der (gnostische) Abendmahlsteilnehmer umfangen von einem ins Unendliche ausgeweiteten unkonturierten Objekt, das sehr nahe und lebensnotwendig, aber dennoch unbekannt und unkonkret, überall und nirgends, unvermischt und ungeschieden da ist. Die "Welt", die für ihn Bedeutung hat, ist in der (mystischen) Dualunion mit der Mutter gegeben. Nicht ohne Grund entwickelten sich die Vorstellungen von der Omnipräsenz und Ubiquität Jesu, von der unio mystica und von den zwei Naturen wie von dem mystischen Leib Jesu im Zusammenhang mit dem Abendmahl." (Kühnholz 391)
"Anders als in den bisher vorgestellten Typen steht hier der Tod Jesu im Mittelpunkt. Jesus wird hier gleichsam beerdigt und im rituellen Erinnern für die Nachwelt aufbewahrt. Etwas von der Distanz der Erben kommt hier, wie mir scheint, zu Wort: Der Tod Jesu wird deutlich historisiert und damit definitiv bekräftigt. Jesus ist an einem bestimmten Tag, also unwiderruflich real gestorben und hat wie ein großer Toter der damaligen Zeit kurz zuvor sein Vermächtnis in eine Stiftung eingebracht, um sich des Gedächtnisses der Hinterbliebenen zu versichern. Die Erben Jesu erkennen und reflektieren jetzt, was ihnen der Verstorbene hinterlassen hat und prüfen gleichzeitig, ob die religiöse Weltorientierung, die sie mit Jesus teilten, der Erfahrung ihres Verlustes standhält. Doch es liegen auch Gefahren in dem Erinnern der Hinterbliebenen. Denn je mehr herausgestellt wird, was der Tote bedeutet hat, je mehr der Abwesende überirdische Größe erhält, umso stärker muß der Verlust werden. Nicht selten richten deshalb die Hinterbliebenen die daraus resultierenden Gefühle des aggressiven Schmerzes gegen andere." (Kühnholz 392)
"Man sieht, daß in den dargestellten Mahltypen eine Reihe der von Spiegel für die Trauer beschriebenen Abwehrmechanismen wirksam sind.
So finden wir
- von den narzißtischen Bewältigungsmechanismen
--- die Idealbildung (1),
--- den Abbau der Realitätskontrolle (4) und
--- die Manie (3,5),
- von den aggressiven Bewältigungsmechanismen
--- die Verleugnung (2,3),
--- die Suche nach dem Schuldigen (6) und
--- die Identifikation mit dem Aggressor (1,6), und
- von den objekt-libidinösen Bewältigungsmechanismen schließlich
--- die Inkorporation (6),
--- das Erinnern (2,6) und die
--- Substitution (6).
Sie prägen offenbar in bestimmten Kombinationen ganz bestimmte Mahltypen aus.
Die verschiedenen Bewältigungsmechanismen, die sich bei der Trauer und in den verschiedenen Abendmahlstypen gezeigt haben, sind an sich nicht pathologisch, sondern tragen zur Heilung und Heil bei. Erst wenn die Trauer bei einem von ihnen fixiert bleibt, kann es zu einer kritischen Störung kommen. Vielleicht können wir von daher auch Kriterien gewinnen, die uns bei der Beurteilung der verschiedenen Abendmahlsformen in der Kirchengeschichte und in den Reformversuchen der Gegenwart hilfreich sein können.
Ich meine, daß sich in den sechs Mahltypen zwei verschiedene psycho-dynamische Grundtendenzen ausdrücken. Es fällt nämlich auf, daß Jesus in einigen (Liebes-, Erscheinungs-, Inkorporationsmahl) anwesend und in den drei anderen abwesend ist. In diesen wird die Trennung aufgehoben, in jenen vollzogen. Einmal nimmt man etwas von ihm, das andere Mal tut man so etwas wie seine Schuldigkeit. Hier inkorporieren sich ihn die einzelnen Hinterbliebenen im Genuß einer pneumatischen Substanz, da finden sie sich in der Kommunio der Söhne zum Abschied zusammen. In den einen sind die objektlibidinösen und narzißtischen, in den anderen ambivalente Strebungen vorherrschend. Hier wollen sie Jesus haben (Introjektion), da wollen sie so sein wie er (Identifikation). Das führt uns zu der Frage, ob wir die Mahlberichte nicht nur mit Hilfe der Abwehrformen, die in der Trauer eine Rolle spielen, interpretieren können, sondern ob darin zwei ganz verschiedene Stufen der Objektbeziehung und deren Aufhebungen mit den dabei wirksamen unbewußten Phantasien auszumachen sind, nämlich die orale und die phallische Stufe. Denn auf diesen beiden Stufen macht jeder Mensch ja wesentliche Erfahrungen mit Trennung und Verlust und entwickelt dabei jeweils eigentümliche Strukturen, auf die er im späteren Leben bei Trennungen zurückgreift." (Kühnholz 393f)
Literatur:
Werner Kühnholz, Das Neue Testament - Dokument eines Trauerprozesses? In: Wege zum Menschen 27, 1975, S. 385-404.
Yorick Spiegel, Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1973.