Aus dem Vortrag vor der Loge "Reinholdsburg" im Deutschen Druidenorden, Rendsburg, am 14. Juni 1979
Die Rede von Gott ist mir begegnet in den Geschichten des Alten und Neuen Testaments, die mir zuerst von den Eltern und dann in der Schule erzählt worden sind und die ich dann selber im Laufe meines Lebens Stück für Stück weiter entdeckt habe. Und ich bin angesichts dieser Geschichten, die Menschen aus ihrem Leben erzählen, gefragt, ob ich ihnen glaube, ob ich ihnen ihre Erfahrungen mit Gott abnehme, ob ich damit für mein Leben etwas anfangen kann.
Zunächst geht es mir so: Wenn ich in der Bibel über Gott lese, dann bemerke ich Unterschiede. Manchmal wird über Gott geredet wie von einer Mutter. So heißt es im Buch des Propheten Jesaja: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet" (Jesaja 66,13). Oder im Psalm 36: "Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben" (Psalm 36,8). Manchmal ist von Gott die Rede als dem Vater, einem strengen oder auch mehr liebevollen. Wie es im Psalm 103 heißt: "Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten" (Psalm 103,13). Oder im 2. Buch Mose: "Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern" (2. Mose 19,5).
Vielleicht merken Sie den Unterschied, wenn von Gott als Mutter oder Vater die Rede ist. Es ist ein bisschen so wie in unserer Erfahrung im Umgang mit irdischen Müttern und Vätern. Mütter lieben ihre Kinder so, wie sie sind, Väter am meisten diejenigen, die ihnen ähnlich sind und das tun, was sie (die Väter) wollen.
Manchmal begegnet mir Gott in partnerschaftlicher Beziehung als Freund. So wie es im 2. Buch Mose heißt: "Der Herr aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet" (2. Mose 33,11). Oder wie Jesus zu seinen Jüngern sagt: "Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid" (Johannes 15,15).
Und manchmal begegnet mir Gott gar nicht wie ein Mensch, eine Gestalt meiner persönlichen Erfahrung, also wie Mutter, Vater oder Freund, sondern wie ein Prinzip der Liebe und der Gerechtigkeit. So wie es im 1. Johannesbrief im 4. Kapitel heißt: "Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm" (1. Johannes 4,16).
In seinem Beitrag "Fünf Fragmente über Gott" schreibt Huub Oosterhuis:
Die Bibel bewahrt die Zeugnisse über Gott aus allen Phasen der Geschichte Israels, aus der Zeit, als dieses Volk noch in den Kinderschuhen steckte, wie auch aus der Periode des Exils und des Untergangs, viele Jahrhunderte später.
Ein Kind glaubt an Muskelprotze, an Kampf und Sieg. Als Israel noch ein Kind war, empfand und reagierte es wie ein Kind. Im Zeugnis aus den Kinderjahren Israels ist Jahwe ein kämpfender Gott, stärker als alle anderen Götter; einem der ältesten Teile der Bibel zufolge ist er ein "Kriegsheld", der "kreischend wie eine gebärende Frau" drauflosschlägt. Eine primitive und noch nicht voll entwickelte Erlebniswelt spricht sich in einem primitiven Glaubenszeugnis aus: anfänglich ist er - die zehn ägyptischen Plagen im Tornister - ebenso rachsüchtig, militant und gespenstisch wie alle Götter der Menschen. Er ist ein strafender, rachsüchtiger und anspruchsvoller Gott, aber gemeinsam mit Israel entwickelt er sich im Laufe der Geschichte, er wächst, ändert sich und wird menschlicher.
Der Gott, der sich in der Befreiung aus dem Sklavenhaus offenbart, der für sein Volk Raum und Freiheit schafft, wird in seinem Umgang mit Israel immer mehr "anders als alle übrigen Götter". Er wird immer weniger "Abgott", Anforderung, Gewalt, Macht und Schema, das die Menschen zwingt und einengt. Er wird immer mehr zu einem Wesen, das anderen Menschen die Freiheit gewährt, ein Vater, der seine Kinder frei herumlaufen lassen kann. Er wird mehr und mehr Befreiung.
Als Israel ein Mann wurde, hat es seine kindlichen Träume abgelegt. Dann legt es von seinem Gott das Zeugnis ab, dass er Gedanken des Friedens und nicht der Vernichtung hegt, wie ein Erwachsener, der vom Leben gelernt hat, der nicht mehr an Gewalt, Kampf und Sieg, nicht an Strafen und Schläge, sondern an Geduld und Vergebung glaubt.
Das Zeugnis des erwachsenen Israels kennt einen Gott, der nicht mehr zwingt, der immer bescheidener und machtloser wird. Mit seinem Volk geht er in die Verbannung - mit seinem Volk, seinem Sohn-auf-Erden. In der Fremde wird er gestoßen, getreten, vernichtet. Dann ist er nirgendwo zu finden, dann sind alle Abgötter und Mächte, alle Götter, die so-und-nicht-anders sein müssen, viel mächtiger als er. Es ist kein Tempel und kein Prophet mehr da, er schweigt. Eine armselige Gruppe, der heilige Rest Israels, erkennt ihn noch. In ihrer Mitte erwacht die Erwartung, dass dieser Gott sich einmal und endgültig in der Gestalt eines Knechtes zu erkennen geben und sprechen wird als jemand, der nichts abverlangt, sondern der die Lasten trägt und duldet.
Dieser Gott, der sich endlos erniedrigt und entäußert, der den Menschen Raum schaffen, sie nicht bekämpfen, sondern ihnen dienen will, er ist, den Schriften zufolge, in Jesus Christus erschienen und hat durch ihn gesprochen. Dieser Gott, der im Verlauf der Geschichte Israels immer mehr an Glanz eingebüßt hat und immer mehr ein Gott geworden ist, den man übergehen kann, der nicht absolut ist und keine verblendende Wahrheit, sondern einer, dem man sich auch entziehen kann, er spricht seinen Willen und seine Absichten, seine Friedensgedanken, seinen Namen im vollen Umfang aus, indem er der Gott Jesu geworden ist.
Jesus, ein Sohn von Menschen, einer aus der Reihe, ohne Gestalt und Pracht. Er lebt weit von Gott entfernt, scheitert und fällt in die Hände von Menschen. Wir spüren nicht mehr, was für ein Skandal dieser gekreuzigte Mann für Jünger und Freunde war. Er stirbt eigentlich infolge eines dummen Missverständnisses. Als der Gott Israels "endgültig" in ihm gesprochen hat und er das Wort Gottes für diese Welt genannt wird, was gibt dieser Gott uns dann zu verstehen? Dass er nichts von uns verlangt, dass er befreien und dienen will, keine Anforderungen stellt, keine Opfer erwartet und kein Blut sehen will. Dass es ihm lieber ist, wenn die Menschen ihn verlieren und vergessen, als dass sie unter ihm gebückt gehen. Dass er verschwinden und tot sein will, damit wir leben.
Das Wichtigste, was ich aus diesen Worten und aus der Beschäftigung mit der Geschichte des Gottesverständnisses in der Bibel gelernt habe, ist, dass Gott mit den Menschen mitwächst, dass er mitgeht. Auf die Frage des Mose, wer er denn sei, als welcher er angerufen werden soll von den Israeliten, die Mose herausführen will aus dem Sklavenhaus Ägyptens, antwortet Gott ihm: "Ich werde sein, der ich sein werde" (2. Mose 3,14). Das ist der Name des Gottes, der durch die Geschichte der Menschen mitgeht.
Das also habe ich gelernt über Gott und Abgötter, und ich frage mich: Was bedeutet das alles für mich selbst, begleitet Gott mich auch durch mein Leben, durch all die Entwicklungen, die ich durchmache?
Im christlichen Glaubensbekenntnis heißt es: "Ich glaube an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist." Für mich bedeutet das, dass Gott mich auch durch mein Leben begleitet, durch die wesentlichen Entwicklungsschritte meines Lebens, und ich will versuchen, das deutlich zu machen.
Wie Paulus einmal gesagt hat im 1. Korintherbrief: "Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Vorstellungen; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war" (1. Kor 13,11), so gibt es auch in meinem Leben eine Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, und das hat auch Folgen für meinen Glauben.
Solange ich ein Kind war, brauchte ich die Eltern, Mutter und Vater. Und als ich heranwuchs, löste ich mich von ihnen und fand Partner, Freunde, meine Frau, Arbeitskollegen, Menschen, mit denen ich täglich zusammen lebe und umgehe. Wenn ich älter werde, dann werde ich mich auch von all diesen Gefährten meines Lebens einmal lösen müssen, mit dem Alleinsein fertig werden und Trost finden. Diejenigen unter Ihnen, die das schon ein Stück erlebt haben, einen Menschen verloren haben, der Sie begleitet hat durch Ihr Leben, werden wissen, was es heißt, traurig zu sein und getröstet zu werden.
"Ich glaube an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist." Für mich spiegelt das trinitarische Glaubensbekenntnis die menschliche Entwicklungsgeschichte, auch meine eigene, wider in ihrer doppelten Ablösung: vom Vater zum Sohn bzw. zum Partner und Freund, und vom Sohn bzw. Partner und Freund zum Heiligen Geist, und darunter verstehe ich "Trost".
Für mich war das in meiner persönlichen Glaubensentwicklung vielleicht eine der wichtigsten Entdeckungen, was eigentlich unter "Heiligem Geist" zu verstehen ist. Denn die Ablösung vom Vater zum Sohn war etwas, was ich verstanden hatte auch in meiner persönlichen Lebensgeschichte der Auseinandersetzung mit meinem Vater. Und sicher ist das Besondere am christlichen Glauben gerade dieses, dass er Gott nicht oben nur im Himmel sein lässt, sondern davon spricht, dass Gott heruntersteigt zu den Menschen und einer von ihnen wird. Aber das mit dem Heiligen Geist habe ich wohl lange nicht richtig verstanden. Sicher, dass Heiliger Geist so etwas wie "Begeisterung" ist, wie es in der Pfingstgeschichte geschildert wird, das hatte ich begriffen. Aber die Tiefe dessen, was damit gemeint sein könnte, habe ich erst verstanden, als ich einmal eine Predigt zu halten hatte am Sonntag vor Pfingsten über einen Abschnitt aus den Abschiedsreden Jesu, wo Jesus zu seinen Freunden darüber redet, dass er gehen wird, dass sie traurig sein werden und dass er ihnen seinen Geist, den "Tröster", dalassen wird. Und da habe ich gedacht: Heiliger Geist heißt wirklich "Trost", das, was einem bleibt, wenn man sich löst von einem Menschen, der einem sehr lieb gewesen ist: am Ende eines Trauerprozesses getröstet zu sein. Und es ist ja so, dass die Jünger Jesu erst sehr verzweifelt und traurig waren - und Pfingsten waren sie getröstet und konnten sich wieder anderen Menschen zuwenden.
Ich finde, dass sich in diesem trinitarischen Glaubensbekenntnis etwas von den Ablösungsprozessen unseres menschlichen Lebens widerspiegelt. Solange wir Kinder sind und Eltern haben, glauben wir an einen Gott, der wie ein Vater oder eine Mutter ist. Wenn wir erwachsen werden und uns von unseren Eltern lösen, dann lösen wir uns eigentlich auch von dem Gott als Vater und Mutter. Viele bleiben stecken in dieser Ablösung, die dann so sehr kritisch ist: dann, wenn man erwachsen geworden ist, tut man eben ab, was kindlich war und will mit Glauben gar nichts mehr zu tun haben und findet vielleicht nicht mehr zu dem Gott als Freund. Ich glaube aber, dass es ihn gibt, den Gott als Freund, und dass es sogar noch, wenn ich mich auch davon lösen muss, den Gott als Trost gibt, etwas, was unverlierbar in mir ist.
In der Vorstellung "Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist" steckt also auch etwas von dem: Gott über mir, Gott neben mir, Gott in mir. Dabei bedeutet die Ablösung vom Vater oder Freund ja nicht eine "Erledigung", als seien die Eltern "erledigt", wenn man aus dem Elternhaus herausgeht und selber heiratet. Oder als sei der Ehepartner "erledigt", wenn er gestorben ist und ich allein zurückbleibe. Sondern die jeweils neue Stufe meines Lebens und meiner Existenz ist bestimmt von dem, was vorher war, und spielt in der Tiefe und in der Erinnerung immer noch eine große Rolle. Deswegen ist es nicht einfach eine Abfolge: Ich glaube erst an Gott, den Vater, und dann an Gott, den Sohn, und dann an Gott, den Heiligen Geist, sondern eine zunehmende Entwicklung: Ich glaube an Gott, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist. Und alles hat seine besondere Stunde in meinem Leben.
Nun ist die Frage, warum wir es so schwer haben, in Glaubensdingen wirklich erwachsen zu werden, diesen Weg zu gehen der Ablösung von Vater, Sohn und Heiligem Geist und doch alles in einem tieferen Sinn zu behalten. Ich meine, dass es ein bisschen mit der Struktur auch unserer Gesellschaft zu tun hat, die einmal sehr stark eine Vatergesellschaft gewesen ist und deshalb den Vatergott so betont hat. Selbst Jesus und der Heilige Geist, also eigentlich der Partner und der Trost, sind auf diese Ebene des Väterlichen gehoben worden. Es hieß eben nicht: Jesus, der Bruder, sondern: Jesus, der Herr; und der Heilige Geist war nichts anderes als dieser Vater oder dieser Herr in seiner Wirkung nach außen. Ich glaube, die Menschen haben das, was darin an Neuem und Umwälzendem enthalten gewesen ist, nicht durchhalten können aufgrund der Verhältnisse, in denen sie gelebt haben.
Wir leben heute, wie Mitscherlich gesagt hat, in einer Gesellschaft, die auf dem Weg ist in eine "vaterlose Gesellschaft", die alle Traditionen abbricht, die mit Vätern nichts mehr anfangen kann und deshalb auch nicht mehr mit dem väterlichen Gott. Und deshalb werden so viele aus Theisten zu Atheisten und finden nicht zu einem brüderlichen oder geschwisterlichen Glauben. Denn das wäre ja eigentlich der notwendige Schritt, wenn wir uns aus der Vatergesellschaft lösen: dass wir zu einer brüderlichen, einer geschwisterlichen Gesellschaft finden, in der das Verhältnis zwischen Männern und Frauen erneuert ist und sich auch auswirkt auf unseren Glauben und unser Verhältnis zu Gott.
In einer geschwisterlichen Gesellschaft spielt nicht mehr der Vatergott die größte Rolle, sondern der Gott, der Freund und Mitbruder ist wie in der Gestalt des Jesus von Nazareth. Aber jenseits der Gesellschaft, des Zusammenlebens mit anderen Menschen, ist auch noch die Stufe zu sehen, wo wir lernen müssen, mit dem Alleinsein fertig zu werden. Und da ist etwas, was ich mir wünsche für das Altwerden: so etwas wie Weisheit, die getröstet ist. Darin klingt etwas von dem an, was im Mittelalter die Mystik den Menschen zu sagen versuchte: dass wir uns eins wissen mit Gott, dass Gott in uns ist. Aber vielleicht ist das ein Schritt, der noch weit ist, der Mühe kostet, der wachsen muss.
Gott ist für mich alles in allem, nämlich Vater oder Mutter, Freund und Trost; er ist zuzeiten über mir, neben mir und auch in mir. Einer, der mit mir geht auf dem Weg meiner Entwicklung, der mir erlaubt, so etwas wie einen erwachsenen Glauben zu haben. Wie Paulus sagte: "abzulegen, was kindlich war", und das zu finden, was Glaube eben nur bedeuten kann für einen erwachsenen Menschen.
Ich möchte meine "andächtigen Betrachtungen" über den lebendigen, mitwachsenden Gott und die Abgötter schließen mit Zitaten des Kirchenvaters Augustinus: "Gott, von dir sich abwenden heißt fallen, zu dir sich hinwenden heißt aufstehen, in dir bleiben heißt sicheren Bestand haben, Gott, dich verlassen heißt sterben, zu dir heimkehren heißt zum Leben erwachen, in dir weilen heißt leben." Und das für mich wichtigste Wort, das ich einmal entdeckte, als ich in der Oberprima zum ersten Mal die Bekenntnisse Augustins las: "Fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te" - "Zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis dass es Ruhe findet in dir."