Isaaks Opferung
Abraham konnte es nicht mehr ertragen, ihn täglich in dieser Rolle zu sehen: "Mamas Liebling" - ja, auch sein Erbe und der Träger einer gewaltigen Gottesverheißung; aber Isaak erinnerte ihn auch jeden Tag an eine schreckliche Tat, die er begangen hatte: Er hatte Hagar und Ismael in die Wüste geschickt auf dringende Bitten seiner Frau Sarah, die eifersüchtig sah auf ihre ehemalige Dienerin und jetzige Nebenfrau, die so stolz war auf ihren wilden und ungestümen Sohn, der es dem kleinen Pascha und Alleinerben schon zeigen würde.
Hagar war eine stolze und hochgewachsene Ägypterin, die nun aus Rücksicht auf die hochgestellte Ehefrau und ihren gehätschelten Sohn in die Wüste geschickt wurde, zusammen mit Ismael, den beargwöhnten und vom Vater so geliebten Sohn. Er war der Erstgeborene, warum sollte er nicht der Träger der Verheißung sein? Hing denn alles an den Müttern? Konnten die Männer in der patriarchalen Gesellschaft nicht durchsetzen, wer ihnen nachfolgen würde? Mussten sie dabei auf ihre Frauen achtgeben, ihre gesellschaftliche Stellung, ihren Rang, ihre Rolle?
Abraham hörte auf Sarah und schickte die zwei geliebten Menschen weg - nicht ohne Verlegenheit und Skrupel, denn er setzte sie damit dem Tod oder zumindest der Todesgefahr aus. Die Wüste war unwirtlich, versengend am Tag und kühl und weglos in der Nacht. Abraham konnte hoffen, aber nicht wissen und nicht sicher sein, dass Gott die beiden bewahren würde am Brunnen "des Lebendigen, der mich sieht", wie Hagar ihn nannte und Gott damit einen neuen Namen schenkte.
Abraham sah auch, jeden Tag, dieses Muttersöhnchen, das ihn an seine Schwachheit erinnerte und an den ungeheuerlichen Vorgang, Menschenleben aufs Spiel gesetzt zu haben. Er ertrug Isaak nicht mehr und wollte ihn opfern zur Beruhigung seines schlechten Gewissens: dann eben beide nicht - und auch nicht mehr die große Verheißung unzähliger Nachkommen!
Und so zog er los auf den Berg Moria mit dem Knaben und dem Messer. Aber Gott nahm dieses Opfer mit der Tendenz zur Selbstbestrafung nicht an. Isaak blieb am Leben, trat die Rolle des Erben an und kümmerte sich am Ende um die Bestattung seines Vaters. Aber nicht allein, sondern zusammen mit seinem Stiefbruder Ismael, zu dem er Kontakt hatte (seit wann eigentlich?) und den er am Erbe beteiligte - zumindest dem ideellen, nämlich der Bestattung des Vaters.
Was haben die beiden Stiefbrüder bei der Trauerfeier über den Vater erzählt? Nur die gesellschaftlich relevanten Daten und Taten oder auch etwas aus seinem Privatleben, das heute keiner mehr kennt und schon damals zu Flüstereien hinter vorgehaltener Hand führte?
Nach Sarahs (und wohl auch Hagars) Tod hatte er nämlich noch einmal geheiratet: Ketura, eine Ägypterin wie Hagar, keine Angehörige aus der Oberschicht seines eigenen Volkes. Warum wohl? Etwas muss an der Hagarschen Art eindrucksvoll und unwiderstehlich gewesen sein.
Und, wie bitte, sechs Söhne sind ihm noch von dieser zweiten Frau geboren worden? Was für eine kraftvolle Sohnesmutter muss das gewesen sein! Aber sie spielte keine große Rolle mehr, war nicht ehrgeizig, die Mutter des Verheißungsträgers zu sein wie nach ihr Tamar. Sie blieb bescheiden im Hintergrund wie ihre Söhne, die sich ihr Erbe auszahlen ließen. Aber unerkannt haben sie bis heute den Samen Abrahams weitergetragen in die weite Welt, wer weiß, wohin: "Ich will dich segnen. und du sollst ein Segen sein!"
Aber was haben dann die Theologen daraus gemacht im Laufe der Jahrhunderte? Eine Sache des Glaubensgehorsams bei Abraham, so behaupten sie; und ganz Kluge sehen darin eine ätiologische Sage zu Kultort, Ablösung des Tieropfers oder ähnlichem. Dabei ging es um Liebe, ein schlechtes Gewissen und familiäre Rücksichtnahme - wie immer im Leben.
Aufgeschrieben am 16. Oktober 2023 im Augustinum Mölln