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Der arme Vetter (1918)

Aufführungsgeschichte:

uraufgeführt: 1919 Hamburg (Erich Ziegel)

inszeniert: 1920 Halle (Edgar Groß), 1923 Berlin (Jürgen Fehling), 1924 Leipzig (Erich Schönlank), 1925 Karlsruhe (Felix Baumbach), Barmen-Elberfeld (Horst Hoffmann), Dresden (Alfred Noller), 1926 Oldenburg (Clemens Schubert), 1927 Hannover (Karl Bauer), Gera (Karl Hans Böhm), Magdeburg (Leo Hubermann), 1928 Aachen (H. A. Schröder), Nordhausen (Hans Bensch-Rutzer), 1929 Nürnberg (Ernst Ludwig Schön), Mannheim (Gerhard Storz),

1930 Dortmund (Hans Preß), Würzburg (Willy Keller),

1956 Berlin (Hans Lietzau), 1958 Oldenburg (Ernst Dietz),

1960 Kiel (Richard Nagy), 1962 Wien (Helmut Pietschmann/Wolfgang Mayr), 1965 Rostock (Erhard Markgraf/ Heinz Weimer), 1967 Lübeck (Walter Heidrich),

1970 Darmstadt (Hans Bauer), 1971 Wien (Irimbert Gansers), 1977 Köln (Roberto Ciulli), Frankfurt (Frank-Patrick Steckel), Basel (Adolf Dresen),

1981 Hamburg (Michael Gruner), 1988 Wilhelmshaven (Gastspiel in Ratzeburg) (Klaus Engeroff), Bremen (Günter Krämer), Lübeck (Paul Bäcker), 1989 Stuttgart (Michael Gruner),

1990 Köln (Günter Krämer), 1991 Hildesheim (Ralf Knapp), 1992 Berlin (Fritz Marquardt), Nürnberg (Raymund Richter), 1994 Wiesbaden (Sigrid Andersson), Augsburg (Ralf Günter Krolkiewicz), 1997 Darmstadt (Thomas Janßen), Rostock (Michael Aichhorn), 1998 Kiel (Raymund Richter), Pforzheim (Michael Hubers), 1999 Hamburg (Hans-Ulrich Becker),

2000 Schwerin (Ernst M. Binder), 2002 Würzburg (Hanfried Schüttler), 2004 Dortmund (Uwe Hergenröder).

Inhalt:

Hans Iver, dem "armen Vetter" gelingt es am Schluß dieses Dramas, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er sucht sein besseres Ich und kann es auf dieser Welt nicht finden. Umgeben ist er dabei vor allem von Menschen, die ihr Glück im Diesseitigen einer geordneten Existenz oder im kurzen Vergnügen suchen.

Barlach bringt in den zwölf Szenen dieses Dramas verzweifeltes Bemühen, die Sinnhaftigkeit des Lebens zu finden, neben tolldreisten, absurden, höchst lächerlichen und sehr vergnüglichen Geschichten auf die Bühne. Hier spielt sich alles an den Ostertagen, der Auferstehungszeit, ab. Die Handlung spielt an der Elbe, wo Barlach in Wedel geboren wurde und 1901-1904 gelebt hat. Menschen, die einen schönen Tag verleben möchten, wie Siebenmark und Lena Isenbarn, treffen nicht nur auf Hans Iver, sondern im Verlauf der Handlung auch auf eine ganze Schiffsgesellschaft, die durch ein Unwetter hierher verschlagen wurde.

Fast alle reden immer aneinander vorbei. Nur Lena Isenbarn erkennt wie Iver die Sinnlosigkeit dieses Treibens. Doch während sich der "arme Vetter" umbringt, beginnt sie ein neues, "ihr" Leben. Sie trennt sich von ihrem Verlobten und geht fort. So gilt für Lena Isenbarn Barlachs Aussage: "Ich habe das alles tödlich und schwer erlitten und habe mich durch die Arbeit befreit. Man braucht nicht zum Revolver zu greifen, sondern kann Vertrauen haben und hoffen" (B I 539).

Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 34.

Das zeitgenössische Gesellschaftsdrama Der Arme Vetter spielt an der Elbe bei Hamburg. Es ist Ostern, Fest der Auferstehung, des Neubeginns und der Hoffnung. Um die zu neuem Leben erwachende Natur zu begrüßen, haben sich Menschen zu einem Spaziergang am Strand von Wittenbergen aufgemacht.

Unter ihnen ist Hans Iver, der beschlossen hat, sich an diesem symbolischen Tag umzubringen. Seine Situation ist hoffnungslos, da es unmöglich ist, dem Dualismus der menschlichen Existenz zu entfliehen, denn sein niederes, irdisches und materielles Dasein steht einem geistig-spirituellen Ideal im Wege. Im Freitod und der Erlösung von der physischen Existenz sieht er den einzigen Weg zu einem göttlich-geistigen Dasein zu gelangen. In seinem geistigen Streben empfindet er sich als Außenseiter, da alle anderen nur mit der Befriedigung der profan-materiellen Bedürfnisse beschäftigt sind.

Paul Siebenmark, der mit seiner Verlobten Lena Isenbarn unterwegs ist, ist von dieser Sorte: Als karrierebewusster Geschäftsmann ist ihm nichts wichtiger als Geld, Karriere und ein unbeschädigtes Image. Zwischenmenschliche Beziehungen werden mit Geld geregelt. Als alle drei zusammentreffen, erkennen Iver und Frl. Isenbarn ihre verwandten Seelen. Denn auch sie, die sich in einer Aufbruchsstimmung befindet, stellt gegebene gesellschaftliche Normen in Frage und steht im Konflikt mit Siebenmarks Zweckorientiertheit.

Nachdem Iver, der mit einem Revolver unterwegs ist, nach einem misslungenen Suizidversuch angeschossen in das nahegelegene Wirtshaus getragen wird, wird ihre Hingezogenheit zueinander deutlich. Frl. Isenbarn stellt sich auf die Seite Ivers, als dieser in der Wirtsstube zum Gespött von Ausflüglern wird, die soeben mit dem Schiff angekommen sind. In deren Mittelpunkt steht Frau Venus, der verkleidete Tierarzt Bönhaase, Symbol für Dekadenz, Triebhaftigkeit und Frivolität. Iver wird gezwungen an obszönen Späßen teilzunehmen. Dabei ist er der Doppeldeutigkeit der Gesellschaft und der Frau Venus ausgeliefert.

Durch die religiösen und biblischen Anspielungen gerät Iver in die Rolle des österlichen Opferlamms. Als sie Ivers Abschiedsbrief vorliest, zeigt sich ihr Unverständnis, welches gleichzeitig als das Unverständnis der Gesellschaft zu werten ist.

Nachdem Iver seinen Verletzungen erlegen ist, die er sich beim Suizidversuch zugefügt hat, wendet sich Lena Isenbarn von Siebenmark ab, der nichts mehr als Spott und Skandal fürchtet. Sie identifiziert sich mit dem toten Iver und will als "Magd eines hohen Herrn" Erneuerung in einem spirituell-geistigen Lebensentwurf finden.

Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 221 f.

Beißende Kritik:

Da sitzt einer, schnitzt Holz. Es werden Frauenfiguren, einzeln, auf einer Bank, mehrere zusammen. Sie haben Umschlagetücher, faltige Röcke. Sehr gedrückt sind sie, Bauernfrauen (augenblicklich ist diese bäuerische Gedrücktheit freilich unmotiviert; die Eierpreise sind recht schön). Die hölzernen Figuren sah man oft, auch in Museen; ruhige, harmlose, anständige Arbeiten. Der Mann will nicht bluffen, es ist etwas ländlich Geduldiges, dazu Betrübliches, Bedauerliches an ihm und ihnen. Dies war Ernst Barlach. Er fing zu dichten an. Dramen von ihm wurden gedruckt, gespielt. Besonders das Staatstheater unter dem klugen Theatermann Jessner karessierte ihn. Plötzlich - die Saison ist zu Ende, man packt seine Sachen, geht nach Hause - plötzlich passiert ein Unglück, es muß noch was geschehen: Barlach wird entdeckt. Zwei Stücke von ihm werden aufgeführt. Schlag auf Schlag, hochrote Gesichter. Man strahlt: heil dem Tag, da du erschienen, dideldumm.

Bei dem einen Fünfakter ("Der tote Tag" im Neuen Volkstheater) bin ich nach dem vierten Akt weggegangen. Den Zwölfszener ("Der arme Vetter") im Staatstheater habe ich geduldig bis zum Ende getragen. Ein Bauer spricht langsam. Ich dachte im Staatstheater: Vielleicht fällt Barlach die Hauptsache noch ein. Meine Ausdauer sollte nicht belohnt werden.

Den "Armen Vetter" kann ich schlecht erzählen, weil ich schlecht verstanden habe. Akkurat wie sein Verfasser. Leibniz nennt das "prästabilisierte Harmonie". Das Stück geht programmmäßig unterhalb Hamburgs vor. Systematische Namen wie Buxtehude tauchen auf. Rochus Gliese machte schöne Bühnenbilder vom Strand. Jürgen Fehling inszenierte beinahe so gut wie Martin die "Olympia" von Weiß; die Scheinwerfer brauten wunderbare Nebel und Dämmer. Dazwischen lief der bekannte Jüngling, der zu den begehrtesten Artikeln der neuen Dramatik gehört und sich je nach Bedarf im ersten oder letzten Akt erschießt, nie ohne furchtbaren Krakeel geschlagen zu haben. Dieser Jüngling, der trotz aller Schüsse nicht kleinzukriegen ist - man müßte es einmal mit einer Kanone versuchen -, ist mit der Moral aufs schrecklichste verheiratet. Er hat infolge seiner Pubertät in dies schlecht gehende Geschäft einheiraten müssen. In kurzer Zeit verramscht er den ganzen Plunder, steht vor dem Nichts. ... Der Jüngling im "Armen Vetter" fragt alle: "Haben Sie schon einen umgebracht?" Alle sind betroffen; bemerken Sie! Er untersucht die Gewissen seiner Umgebung frei nach Gregers Werle (i.e. Gestalt aus lbsens "Wildente") mit der sittlichen Forderung in der Hosentasche. Ganz im Beginn erschießt er sich am Strand vergeblich, läuft, liegt, brüllt während ungefähr sechs Bildern in einer Schenke, brüllt nach Moral (Schenke, Moral, Grammophon, wo bin ich Euch nicht schon begegnet? Ich empfehle Anzeigepflicht für diese Seuche). Ein Fräulein taucht auf, Isenbarn, die mit dem Spießer Siebenmark verbrautet ist. Sie ist noch nie in ein modernes Pubertätsstück gegangen, läuft daher dem unvollständig Erschossenen auf den Leim. Nachdem wir uns viele Bilder mit seinen Berichten über die Erbärmlichkeit aller Geschöpfe beschäftigt haben, stirbt der Verbreiter dieser Nachrichten, Hans lver heißt er, weil er doch ein Einsehen hat.

Von mir bekommt er keinen Totenschein. Nächste Saison treff ich den Knaben wieder.

Sonst gibt es anekdotenhafte Dinge in dem Stück, Brocken, Bröckchen. Einige gute Hafentypen, Zollwächter, Schankwirt, humoristisch; freilich sind diese Typen schwer zu verfehlen. Das Beste an dem Stück, das Einzige, was ich behalten werde, ist ein Wort in der Schenke: Gott ist ganz allmächtig doch nicht; kann er Nord-Süd steuern?

Das zweite, ältere Stück: "Der tote Tag" im Neuen Volkstheater, war besser. Es gab nicht bloß einen Passionsweg des Helden (und Zuschauers), sondern eine Legende. In einem Märchenhaften Haus lebt eine Mutter mit ihrem Sohn. Der Sohn will weg. Ein Götterroß, namens Herzhorn, kommt. Die Mutter will den Sohn behalten, ersticht Herzhorn. Jetzt ist "toter Tag" für den Sohn. Mutter und Sohn töten sich. - Wie im "Vetter" die Milieuzeichnung des Hafens das Beste, einzig Erträgliche ist, so hier das Märchen: ein stummer Hausgeist Besenbein, der durch die Räume schlurrt; ein böser Gnom, Steißbart, den man nur als Stimme vernimmt; er keift, lacht, schreit. Und besonders und wirklich gelungen ein Alb: wie er mit dem schlafenden Sohn ringt, ihr würgendes trübes Zwiegespräch: eine gekonnte, wirklich sinnformende Szene.

Aber dazwischen, davor, dahinter: Anstrengung, Mühseligkeit, Gespräche, verqualmter Tiefsinn, halbstundenlang. Barlach leidet an schwerster seelischer Verstopfung. Ach welch Knurren, Drucksen. Er ist kein Macher, ein Biedermann, an mein Herz Bruder, aber ihm ist nicht zu helfen. Ich empfehle ihm Humor. Ab und zu macht er gute Witze: vielleicht geht es so. Beim "Vetter" wurde leidlich geklatscht, gezischt; gepackt wurde keiner; angeödet, bedrückt viele. Wie freute man sich, wenn man bei dem Malheur lachen konnte. Die Öde steigerte sich beim "Toten Tag" im Beginn bis zur Unerträglichkeit. Unerträglich die Verkrampfung des Stücks, Koliken mit ihren Stößen ...

Die hauptstädtische Kritik aber stand Kopf; wenige Ausnahmen. Barlach ist plötzlich - keiner wußte davon - der geniale Holzplastiker, der große Bildhauer, der im Besitz reifer Meisterschaft steht. Du lieber Gott! (Sagen wir besser nebbich.) Man liest, nachdem man sich durch die qualvollen Abende geschlagen hat, Hymnen auf den "Dramatiker": ein herrliches Stück. Einer will ihm a tempo den Schillerpreis geben. Da stehste staunend vis-à-vis. Bei einem las ich: von Barlach wird alles ins Mystische zurückgestoßen. Da haben wir ja den Salat: die Dumpfheit, Gärung, Unklarheit - Mystik. Das Brüten, Würgen, Kollern - Mystik.

Liebe Herren, gräßlich rückständig, ungeistig, eine Frühgeburt ist Barlach. Diese mecklenburger friesische Tugend, sehr echt vor sich hinblökend, wie's ihr ums Herz ist, was kann sie geben? Wem kann sie etwas geben? Barlach, nur dumpf und nicht tief, formt manchmal gut; das ist alles, dazu das Geschrei. Kunst ist Königssatzung: er ist Provinzler, Kleinbürger, kein Edelmann, geschweige König.

Barlachhausse, Hausse-iannah! Gott strafe England - mit deutschen Kritikern.

Alfred Döblin, Barlach-Hausse, 1923, in: Elmar Jansen (Hrsg.), Ernst Barlach: Werk und Wirkung. Berichte, Gespräche und Erinnerungen, Berlin: Union 1972, S. 290-294.