Die Struktur des Gottesdienstes
Von meinem Lehrer in der Praktischen Theologie, Prof. Dr. Joachim Scharfenberg, habe ich gelernt, biblische Texte nach Grundmustern und Antworten abzusuchen, wenn man mit einem bestimmten Thema oder auch einer existentiellen Frage beschäftigt ist. So entstand zum Beispiel das Celler Modell zur Ausbildung von Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit "Verlass mich nicht, wenn ich schwach werde" als ein Wegschema nach der Emmaus-Geschichte Lukas 24. Dem biblischen Text entnahmen wir acht bedeutsame Schritte, acht aktive Verben zum Erlernen der Seelsorge an Schwerkranken und Sterbenden: wahrnehmen, mitgehen, zuhören, verstehen, weitergehen, bleiben, loslassen, aufstehen.
In diesen Tagen unserer Herbsttagung der Luther-Akademie, und ganz besonders heute am Schlusstag, geht es um die Einladung Jesu an seine Jünger, das Abendmahl mit ihm zu feiern und diesen Brauch auch beizubehalten nach seinem Tod: "Solches tut, so oft ihr?s esset und trinket, zu meinem Gedächtnis." Gibt es einen Bibeltext, der uns helfen könnte, die Strukturelemente unserer gottesdienstlichen Feier mit Predigt und Abendmahl besser und tiefer zu verstehen?
Ich meine: Ja. Wir finden diesen Text im Johannesevangelium im 20. Kapitel in den Versen 19-29, die wir eben gehört haben. Ich lese noch einmal den ersten Teil, die Verse 19-23:
19 Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den (führenden) Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. 21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: nehmt hin den heiligen Geist! 23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
Ich finde, liebe Schwestern und Brüder, dass sich die wesentlichen Strukturelemente unserer Wortgottesdienste in diesem Text wiederfinden. Ich möchte das in einer knappen Skizze deutlich machen.
Wir feiern unsere Gottesdienste meist nicht mehr am Abend, sondern am Morgen des ersten Tages der Woche, am Sonntag um 10 Uhr. Nach dem Glockenläuten und dem Eintreten in die Kirche werden die Türen verschlossen. Nicht etwa aus Angst vor religiösen Gegnern, wie es wohl hier und da auf der Welt auch für Christen noch heutzutage geschieht, sondern mit der Absicht der Konzentration auf das Wesentliche, was uns mitten in der Welt anders sein lässt als die Welt. Der Gottesdienst, Gottes Dienst an uns, beginnt zeichenhaft mit dem Friedensgruß: "Der Friede des Herrn sei mit euch allen!" Damit deutlich wird, welche Atmosphäre jetzt unser Zusammensein prägt.
Und dann tritt Christus in unsere Mitte und zeigt sich in seinem Wort. Wir stehen dazu auf und begrüßen ihn: "Ehre sei dir, Herre!" Es ist das lebendige Wort, die , die uns die Gegenwart Jesu gewiss macht. Freude kommt auf über die seligmachende Kraft seines Wortes und macht sich Platz im Bekennen und Singen als unserer Antwort auf das Gehörte. Der Friede des Herrn breitet sich aus, erreicht unsere Herzen.
Und dann werden wir gesandt in die Welt: Die Türen gehen wieder auf, wir treten hinaus in die Welt: gesegnet, begeistert - beauftragt, Sünden zu vergeben. Und das ist wahrhaftig eine großartige und wichtige und unvertretbare Aufgabe: Wenn wir nicht den anderen die Lasten abnehmen, werden sie sie weiterschleppen müssen durch ihr Leben. Gottesdienst macht sendungsbewusst - nicht nur zur Mission, sondern vor allem zur Seelsorge.
Nicht alle, so ist unsere Erfahrung, wollen folgen und hören - einfach nur auf?s Wort. Sie brauchen mehr - gerade heute in deiner Zeit der Bilder und Events: Anschauung und Hingabe - handgreifliche Erfahrungen. Ist nicht das Abendmahl so ein Vorgang, der den "ungläubigen Thomassen" dieser Welt ein besonderes Erlebnis, eine tiefgreifende Erfahrung, vermittelt, die auch sie verwandelt? Ich lese noch einmal die Verse 24-29:
24 Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nich bei ihnen, als Jesus kam. 25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich´s nicht glauben. 26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! 27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Liebe Schwestern und Brüder, machen wir uns klar: Viele Menschen, vielleicht auch einige von uns heißen Thomas: Sie können und wollen nicht glauben einfach nur auf?s Wort der anderen hin. Sie wollen selber sehen, erleben - und dann vielleicht glauben. Jesus erlaubt ihnen, uns, Hand anzulegen, ihn zu berühren, ihm ganz nahe zu kommen.
Der Thomas der biblischen Geschichte konnte die Nägelmale Jesu sehen und seine Hände in die Seitenwunde Jesu legen. So viel Anschauungsunterricht gibt es heute nicht mehr, aber doch etwas zu sehen und zu berühren - im Abendmahl. Brot und Wein als sichtbare Zeichen der Gegenwart Jesu werden vorgezeigt und dazu gesprochen: Er ist jetzt hier. "In der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot ..."
Und wieder lässt sich eine Struktur erkennen für die Skeptischen, die Ungläubigen, die Zweifler dieser Welt, für die dieser Vorgang deshalb besonders wichtig ist. Jesus kommt und sagt und lässt sagen: "Friede sei mit dir!" Und dann dürfen die Hände ausgestreckt werden und Christus legt sich da hinein mit seiner ganzen Lebenshingabe: "mein Leib, mein Blut."
Was für ein Geschenk! Könnte es sein, das auch heute noch die ungläubigen Thomasse dieser Welt gerade an dieser Stelle ins Staunen und ins Bekennen kommen: "Mein Herr und mein Gott!"? Nicht auf die Predigt hin, sondern auf die leibhaftige Erfahrung der Gegenwart Jesu Christi! Natürlich nicht ohne das Wort. Die Elemente allein tun?s ja freilich nicht. Aber Wort und Zeichen sind miteinander verbunden, und das löst diese staunende, bekennende Reaktion aus. Vielleicht erst nur zaghaft staunend: "Mein Gott!" Und dann auch wirklich bekennend: "Mein Herr!"
Könnte es sein, so haben wir in diesen Tagen gefragt, dass gerade die Erfahrung, die gedeutete Erfahrung im Abendmahl, der Anfang des Glaubens sein kann?
Und ist es nicht so: Wir alle, auch und gerade die wir glauben und getauft sind, brauchen immer wieder diese handgreifliche Erfahrung, diese unmittelbare Anschauung und Berührung des Heiligen in der Lebenshingabe Jesu - in kritischen Zeiten womöglich jeden Tag, wie ich es in Taizé erlebt habe und andere in Kriegs- und Notzeiten.
In Finnland, in Helsinki, hat man dafür die Thomasmesse entwickelt: Gottesdienst zum Mitmachen und Mitgestalten, ganz langsam, sehr bewusst, die verschiedenen Sinne ansprechend. Etwas typisch Finnisches: "Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist" - ausgedehnt auf den ganzen Gottesdienst. Und das geschieht doch, wie ich meine verstanden zu haben, auch in Aufnahme orthodoxer Traditionen.
Denn Johannes Chrysostomos (349-407) sagte einmal: "Christus hat uns die Möglichkeit gegeben, uns von seinem Leibe zu sättigen; dadurch erhob er uns zu einer noch engeren Freundschaft und zeigte uns seine Sehnsucht nach uns, denn er gibt sich nicht denen, die ihn nur schauen möchten, sondern jenen, die ihn betasten und essen wollen, die sich in seinen Leib einpflanzen, sich mit ihm vereinigen und die ihre ganze Sehnsucht nach ihm sättigen wollen." Wieviele, gerade auch säkularisierte Menschen, sehnen sich nach dieser Erfahrung!
Und doch ist die Herausforderung, so hören wir aus dem biblischen Text, noch nicht zu Ende. Der auferstandene Christus spricht zu Thomas, nachdem er sich hat sehen und berühren lassen: "
Liebe Schwestern und Brüder! "Nicht sehen und doch glauben" - das ist vielleicht die größte Herausforderung für uns alle, besonders für eine moderne, visuell veranlagte Erlebnisgesellschaft. Aber es ist die Wahrheit: Angeeignet wird das wunderbare Geschenk unseres Herrn Jesus Christus, der sich uns selber gibt in Brot und Wein, nur innen, im Unanschaulichen, Unbegreiflichen, im Herzen - wenn die Wahrnehmungstüren zur Welt geschlossen sind und einer spricht: "Friede sei mit dir!" Und ich finde: Es kann ja nur so sprechen und unser Herz erreichen: der Menschensohn, der Sohn Gottes. Amen.
Die Einladung des Auferstandenen. Biblische Einsichten aus Johannes 20,19-29.
Predigt in der Mette am 7. Oktober 2006 im Ratzeburger Dom. Abgedruckt in: Friedrich-Otto Scharbau (Hg.), Offenheit und Identität der Kirche. Die Einladung zum Heiligen Abendmahl in der pluralistischen Gesellschaft. Veröffentlichungen der Luther-Akademie Sondershausen-Ratzeburg e.V., Band 4, Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2007, S. 16-20.