"Man muss hinzufügen, dass die schöne junge Polin das bevorzugte Modell und auch über viele Jahre hindurch die Lebensgefährtin des 17 Jahre älteren, damals bereits verheirateten Künstlers wurde. Geheiratet hat sie ihn erst 1949 kurz vor ihrem Tod." (Ewa Maria Poradowska-Werszler)
Der Weg führte über Breslau
Wanda Bibrowicz reiste 1896 nach Breslau, um ihr Studium zu beginnen. Nach der Aufnahmeprüfung begann sie in der von Professor Max Wislicenus geleiteten Porträtklasse der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule zu studieren. Max Wislicenus wurde gerade im Jahr 1896 vom Preußischen Kultusministerium auf die Lehrstelle in der Malerei- und Zeichenklasse berufen.
Nach zwei Studienjahren legte Wanda (1898) ihr pädagogisches Examen ab, das sie als Zeichenlehrerin auswies, obwohl dies keinem Studienabschluss gleichzusetzen war. Sie setzte jedoch das Studium in der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule fort, in der Hoffnung, ihr Wissen über die Porträtkunst zu vertiefen. In seinen später geschriebenen Memoiren beschreibt der Professor seine junge Schülerin wie folgt: "Unter den sehr strebsamen Schülerinnen befand sich auch eine junge Polin Wanda Bibrowicz, die bei all ihrer Bescheidenheit und zurückhaltendem Wesen von allen die Begabteste war. (...) Stolz, selbständig und [gut] ausgebildet."
Wanda war von Natur aus eine heitere, freudige, neuen Strömungen gegenüber aufgeschlossene Persönlichkeit, sie gelangte rasch zu ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und beherrschte schnell die komplizierte Kunst des Webhandwerks und begann ihr Lebensabenteuer, das über viele lange Jahre hinweg andauerte.
Neben den technischen Fähigkeiten, die sie eigenständig vertiefte, zeichnete sie auch ein pädagogisches Talent aus. Zu dieser Zeit traf sie auch die Entscheidung, als Berufs- und später Hochschullehrerin unter den Studenten aktiv zu werden. Ihre Veranstaltungen fußten auf einem von ihr selbst ausgearbeiteten didaktischen Programm. Leider sind nur wenige Informationen über das Lehrprogramm der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule überliefert, da die Schularchive im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden.
Als Beweis für ihre didaktischen Fähigkeiten können die Namen und Biographien ihrer Schüler und Schülerinnen, späterer Künstler und Pädagogen, angeführt werden, deren erste Kontakte mit der Textilkunst in der Breslauer Königlichen Kunst- und Gewerbeschule in der von Wanda Bibrowicz mit organisierten und geleiteten Werkstatt zustande kamen.
In der Werkstatt arbeiteten außer den Lehrern und Studentinnen auch zwei ausgebildete Weberinnen. Neben den Übungen, die dem Programm der Schule folgten, stellte man auch Textilien mit einfachen Motiven in der Kelimtechnik her, die vermutlich für den Verkauf bestimmt waren. Die Motive suchte man in der Tier- und Pflanzenwelt. Die Projekte hatten teilweise ornamentalen Charakter und wurden nicht selten von der Leiterin der Werkstatt, Wanda Bibrowicz, vorbereitet. Neben den kleineren Textilien fertigte man auch als Auftragsarbeiten großformatige Gobelins an, die zu wichtigen Akzenten bei der Einrichtung repräsentativer Innenräume wurden (z.B. im Rathaus in Löwenberg in Schlesien oder im Königlichen Regierungsgebäude in Breslau). Elisabeth Thorman erinnert sich an die Leiterin der Werkstatt: "Ihrer verlässlichen Hand verdanken die Tapisserien ihre endgültige Form und technische Ausführung. Ohne ihren unermüdlichen Fleiß wäre die Entstehung derart großer Leinwände unmöglich."
Wanda webte anfangs nach Entwürfen von Max Wislicenus, später beaufsichtigte sie nur noch die Herstellung aus künstlerischer und technischer Sicht. Rasch begann sie nämlich eigene Projekte auszuführen. Ihre Arbeiten wiesen einen charakteristischen flächenorientierten Stil auf, dessen Haupteigenschaft die flächige Behandlung der Form war. Diesen Eindruck erzielte sie durch eine entsprechende Zeichnung und Zusammenstellung der Farbflecken. Die Fähigkeit, wirkungsvolle Farbzusammenstellungen herzustellen, verdankte sie ihrer professionellen Ausbildung als Malerin. Sie begeisterte sich für ihre Arbeit, führte sie gewissenhaft aus und entwickelte ihr gestalterisches Talent weiter. In kürzester Zeit wurde sie eine selbständige Entwerferin, eine gleichberechtigte Partnerin von Wislicenus. Ähnlich wie er ging sie ausdauernd ihren Weg, ohne Rücksicht auf Schwierigkeiten in der sie umgebenden Welt.
Beiden, Wanda Bibrowicz und Max Wislicenus, gebührt Anerkennung dafür, dass sie der Textilkunst ihren alten Rang wiedergaben und sie auf den schlesischen Boden zurückführten. Ihre Konsequenz in der Arbeit führte zur Herstellung von Werken, für die sich in öffentlichen Räumen ein gebührender Platz fand, wie z.B. im Repräsentationssaal des Königlichen Regierungsgebäudes in Breslau, im Sitzungssaal des Ratzeburger Rathauses oder, was die Gobelins betrifft, im Repräsentationsraum des Rathauses in Plauen wie auch in Privatwohnungen.
Professor Karl Schaefer schreibt: "Als eine der ersten Schülerinnen von Wislicenus hat sie neben dem Handwerk auch die Fähigkeiten der Entwurfsarbeit mit so viel Temperament und so guter natürlicher Begabung geübt, ist durch die helfende und zügelnde Nähe ihres Lehrmeisters lange Jahre so wohlberaten gewesen, daß sie heute die größten Aufgaben selbständig und mit schönem Erfolg zu übernehmen vermag. (...) Auf starke Farben-Wirkungen von vornherein bedacht, verfügt Frl. Bibrowicz, Polin von Geburt, nicht nur über das wünschenswerte Temperament und die leichte Beweglichkeit, sondern sie bringt für diese Arbeit auch die unentbehrliche gründliche Kenntnis der Webtechnik mit, die von Natur im Entwurf des Gewebes dieser Art berücksichtigt werden muss."
1911 erlebte die Breslauer Königliche Kunst- und Gewerbeschule, als sie den Rang einer Akademie erhielt, ihre Blütezeit und hieß von nun an die Königliche Kunst- und Gewerbeakademie. Dies war ein Ereignis höchsten Ranges, es erzeugte eine optimistische Einstellung unter den Lehrern und eröffnete neue Entwicklungswege sowohl für die Professoren als auch für die Studenten. Wanda Bibrowicz ergriff die Chancen nicht. Auf eigenen Wunsch verzichtete sie aufgrund persönlicher und emotionaler Gründe auf die Arbeit in der Akademie. Für ihre Schülerinnen, für Professor Max Wislicenus, für Professor Hans Poelzig, die ihre Arbeit außerordentlich schätzten, war dies ein Schlag. Ihren Platz in der Akademie nahmen Else Wislicenus, die Ehefrau von Max, die sich hauptsächlich auf Stickereien spezialisierte, und Gertrude Daubert, ebenfalls eine Stickerin, die beide bereits früher schon mit Wanda Bibrowicz zusammenarbeiteten.