Sitara - das Land der Sternenblumen
Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt (May 1910, S. 1).
In einem Arbeitszimmer in der Nähe von Dresden lebte und arbeitete ein Autor, der eine derartige Weite und Erfahrungsdichte in seinen Schriften applizierte, dass Generationen von Leser*innen ihn zu einem Idol erkoren und sich gleichermaßen einer uferlosen Phantastik hingaben. Ausgehend von seinem mit Sekundärliteratur und exotischen Accessoires gefüllten Arbeitszimmer reiste Karl May in fremde und für die damalige Zeit wenig zugängliche Welten und bestand existenzielle Abenteuer. Sein zentrales Medium war die Phantasie, mittels der er das Angelesene derart plastisch mit Leben füllte, dass ihm viele folgten.
Peter Rosegger schrieb 1877 an Robert Hamerling: "Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich ihn für einen vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muss" (zit. n. Ueding 2001, S. 88). In seiner ekstatischen Schreibweise überlagerte er palimpsestartig die Lebenswelt, indem er biographische Erfahrungen, Reiseberichte, Träume und Sehnsüchte zu einem faszinierendem Amalgam verband. Die Welt des Orients, Nordamerikas oder Sibiriens waren Kulissen für dichte Erlebnisse, für einen "nach außen gebrachten Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will [...]" (Bloch 1962, S. 172).
Durch die intertextuelle Verwendung von landeskundlichen Abhandlungen und Enzyklopädien entstand zwar der Eindruck von Authentizität, allerdings nicht durch das Faktische, sondern durch die phantastische Durchdringung des Stoffes. Dies führte so weit, dass im Spätwerk die Kolportage und die Kulisse des Reisenden aufgegeben wurden zugunsten eines fernen Planeten - Sitara, dem Land der Sternenblumen. Hier ging es nicht mehr um Referenzen oder kolportageartige Spannungsbögen, sondern um eine Landschaft, die zwar ethisch moralische Fragen zu repräsentieren suchte, aber durch surreale Erscheinungen geprägt wurde.
Ja wirklich! Es bewegte sich, es zitterte! Wie ein sich von innen näherndes Licht, welches durch Mauern leuchtet, so stach ein scharf glänzender Punkt durch den unteren, violetten, blauen und dunkelroten Teil der Flammenwand. Der Punkt durchbohrte diese Wand. Sie öffnete sich. Es entstand eine Spalte, die nach der Basis trachtet und, als sie diese erreicht hatte, immer breiter und höher wurde, ein Riesentor zwischen violett, blau und dunkelrot strahlenden Feuerpfeilern, die sich oben zu einer blutig hellrot glänzenden Spitze vereinigten (May 2002, S. 277 f.).
In den Landschaften von Ardistan (dem Land des Krieges) und Dschinnistan (dem Land der Edelmenschen) artikulierte sich die Phantasie, ohne den Handlungsrahmen kontrollieren zu können. Es entstand ein Ort, der sich nicht mehr am Vorgefundenen orientierte, sondern vor allem aus den Phantasien und Träumen einer prekären Lebensgeschichte speiste. Das symbolistische Alterswerk Mays ist eine ungezügelte Transformation von Figuren und Landschaften der sogenannten Reiseerzählungen in einen kaum noch zu kontrollierenden Kosmos der Selbstbespiegelung - Spiegelungen eines mehrdimensionalen Panoptikums, dessen Grund und Ende sich im Unendlichen zu verlieren scheint.
Wir aber wendeten unsern weitern Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unserem hohen, weiteren Ziele zu (May 2007, S. 523).
Die freigesetzten Signifikanten verlieren in diesen Texten jeden Bezug zum Signifikat und der lose Handlungsrahmen konnte nur noch wenige der Stammleser halten - die Veröffentlichung dieser Texte war damals eine verlegerische Katastrophe. Doch genau das machte May nicht nur zum letzten deutschen Großmystiker (vgl. Schmidt 1958, S. 157), sondern auch zu einem Autor, der lebendige Orte allein durch die Kraft der Phantasie konstituieren konnte, ohne dass konkrete Raumkonstellationen vorausgesetzt werden mussten. Und dies gilt auch im selben Maße für die populären Reiseerzählungen. Diese Narrative erzeugen eine derartige Plastizität, dass Millionen von aktiven Leser*innen ihm folgten und bis heute diesen imaginär geprägten Kosmos bevölkern - unabhängig davon, ob hier validierte landeskundliche Inhalte dargeboten werden. Und dies sowohl in akademisch geprägten Refugien wie der Karl-May-Gesellschaft als auch in Fan-Foren, die Gruppenreisen nach Kroatien organisieren, um an 'originalen' Schauplätzen eine geteilte Lebenswelt fern des Alltäglichen zu erleben. Beide Spielarten des 'spacing' gehen problemlos zusammen. Sie überlagern denselben Raum, nutzen vergleichbares Material und erzeugen dennoch in sich geschlossene lebendige Orte.
Das Phantastisch-Imaginäre ist aber nicht nur eine identitätsstiftende Kraft, die Orte schafft, sondern die auch pathologische und unkontrollierbare Sedimente in sich trägt. Bildungsprozesse sind nicht frei davon. Die mit Orten verbundenen Bilder und Begriffe erzeugen Wirkungen, die man nur unzulänglich kontrollieren kann; sie sind der Grund von Innovationen. Derartige Hybridisierungen eröffnen Erfahrungsfelder, die im Rahmen der Kunst ihren angestammten Platz haben, werden aber - wie am Beispiel Mays gezeigt - prekär, wenn sie systemische Grenzen überspringen. Denn wenn die Dämme zwischen dem Imaginären und dem Realen brechen, entwickeln sich Pathologien. Die Aufdeckung der 'Old-Shatterhand-Legende' vernichtete nicht nur die öffentliche Reputation Mays, sondern spaltete auch die vormals engagierte Leserschaft (vgl. Roxin 1974).
Andreas Brenne in: Mitteilungen der KMG Nr. 197/ September 2018, S. 43 ff.