Neuer Blick auf die Geschichte (LNOnline, 10.10.2018)
Dieter Riemer: Kritischer Kommentar zum "Neuen Blick auf die Geschichte" (geschichtsblogsh, 10.12.2018)
Dieter Riemer: Die Erben der Billunger - neue Erkenntnisse? In: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 98 (2020) 113-148.
Limes Saxoniae - eine umstrittene Grenze
Die klassische Deutung
Der Limes Saxoniae, also die "Grenze Sachsens" zu den Abodriten, wurde von Karl dem Großen 809 bei seinem letzten Aufenthalt in Norddeutschland durch Vertrag mit den Abodriten vereinbart, als auch die Eider als nördliche Reichsgrenze festgeschrieben wurde. Mit dieser Grenzziehung wurde das 804 von Karl dem Großen den Abodriten überlassene sächsische Gebiet dem Fränkischen Reich einverleibt, das nun auf einem schmalen Streifen zwischen der Levensau und der Schwentine bis an die Ostsee stieß. Bei dieser Grenze handelte es sich jedoch nicht um eine durchgehend befestigte Wehranlage, sondern eine mitten in einem schwer zu durchdringenden Sumpf- und Waldland, der eigentlichen Grenzzone, definierten Linie. Auch eine nur punktuelle Grenzbefestigung am "Limes" ist nicht bekannt. So konnte dieser keinen nachhaltigen Schutz vor Überfällen und Eroberungen durch die Abodriten bieten, die beispielsweise 1066 und 1072 bis Hamburg vordrangen und die Stadt zerstörten. (Wikipedia-Artikel)
Diese Grenze existierte de facto und unabhängig von irgendwelchen Verträgen oder Vereinbarungen, sozusagen aus "konkludentem Handeln" heraus. Beide Seiten beanspruchten weder den Grenzstreifen noch Gebiete auf der anderen Seite, und das bereits vor der Zeit Karls des Großen und der Eingliederung der Sachsen in das fränkische Reich. Ob Karl der Große diese stillschweigende Vereinbarung zusätzlich durch einen Vertrag ausdrücklich definierte oder nicht, ändert nichts an der Existenz dieser Grenze. (Diskussionsbeitrag in der Wikipedia)
Der Historiker Matthias Hardt hielt bei der Tagung "Der Limes Saxoniae - Fiktion oder Realität?" im Oktober 2017 in Oldenburg in Holstein einen Vortrag, über den Henning Andresen und Stefan Brenner vom Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel berichteten:
Matthias Hardt (Leipzig) versuchte in seinem Vortrag, ein Bild des Limes Saxoniae als slawischer Außengrenze zu präsentieren, und nahm damit eine polabisch-abodritische Perspektive auf diese Grenzregion ein. Unter Verwendung vieler verschiedener Beispiele aus Früh- und Hochmittelalter, die von den Awarenringen über die Befestigungs- und Verteidigungsanlagen der Ungarn bis zu den Grenzsicherungsbauten der Böhmen reichten, präsentierte Hardt die Hage, unpassierbare Verhaue aus verkeilten Baumstämmen und Dornendickicht, als effektive und häufig anzutreffende Form der slawischen Grenzorganisation in Ostmitteleuropa. Als zentrale These seines Vortrags lässt sich die Annahme herausarbeiten, dass diese Form der Grenzanlage auch hinsichtlich der slawischen Grenzrealisierung am Limes Saxoniae Verwendung gefunden habe, auch wenn dafür, nicht zuletzt aufgrund der Vergänglichkeit jener Materialien, kaum archäologische Beweise herangezogen werden könnten. Als Beleg dafür zog Hardt slawische Toponyme heran, welche auf Mannhagen, Presieken und andere Bezeichnungen verwiesen und an rekonstruierten Verläufen des Limes Saxoniae anzutreffen seien.
Henning Andresen, Stefan Brenner: Tagungsbericht: Der Limes Saxoniae - Fiktion oder Realität? 21. Oktober 2017 Oldenburg. In: H-Soz-Kult. 18. Mai 2018 (Onlinefassung).
Günther Bock kritisierte die 1991 von Hardt für die Zeiten Karls des Großen postulierte "systematische militärisch-politische Organisation des Grenzsaumes" vorrangig an der mittleren Elbe mit dem Argument, er hätte die begrenzten Möglichkeiten der Herrschaftsträger vor der Herausbildung landesherrschaftlicher Strukturen im Spätmittelalter übersehen. Sie seien schwerlich in der Lage gewesen, über lange Zeiträume hinweg derartige Einrichtungen am Leben zu erhalten.
Günther Bock: Umbrüche in Polabien während des 11. Jahrhunderts. In: Felix Biermann, Thomas Kersting, Anne Klammt, Thomas Westphalen (Hrsg.): Transformationen und Umbrüche des 12./13. Jahrhunderts. Beiträge der Sektion zur slawischen Frühgeschichte der 19. Jahrestagung des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung in Görlitz, 1. bis 3. März 2010. Langenweißbach 2012 (BUFM 64), S. 67-82, hier S. 70.
Die kritische Deutung
Günther Bock schrieb 2012 mit seinem "neuen Blick auf die Geschichte" zunächst eher vage:
Tatsächlich sollte man diese merkwürdige Grenze kritischer sehen, zumal vieles dafür spricht, dass es sich bei ihr um nicht mehr als den 1062 unternommenen Versuch des Hamburg-Bremer Erzbischofs Adalbert handeln dürfte, die Grenze seiner Erzdiözese auf Kosten seines Suffraganbistums Oldenburg in östliche Richtung vorzuverlegen. Dessen ungeachtet dürfte der Text reale topographische Gegebenheiten des 11. Jahrhunderts beschreiben.
Günther Bock: Anspruch und Realisierung. Ein Buch und ein zweifelhafter "Wissenschaftsverlag". In: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Nr. 107, März 2012, S. 33-37.
Dann 2013 sehr viel deutlicher:
Wird der "Limes Saxoniae" heute immer noch als karolingische Grenze beschworen, stellt man Deutsche und Slawen unhistorisch ausschließlich blutig kämpfend gegeneinander, dann sollte man sich bewusst sein, damit letztlich völkisches Denken zu pflegen - dumpfe Vorstellungen, die im nationalsozialistischen Rassenwahn gipfelten. Wer heute den "Limes Saxoniae" als "alte Grenze" wiederzubeleben versucht, sei es in Form von Wanderungen, Limestagen, Gedenktafeln, Events oder wie auch immer, der begibt sich in der Konsequenz auf ein gefährliches Terrain, wo möglicherweise der "Slawe" als Chiffre, als Versatzstück, für heute von bestimmten Kreisen erwünschte Ausgrenzungen unerwünschter Mitbürger fungiert.
Der "Limes Saxoniae" war nichts anderes als eine Fälschung, die aus höchst materiellen Interessen im dritten Viertel des 11. Jahrhunderts von Erzbischof Adalbert und seinem Scholasten Adam in die Welt gesetzt wurde. Erst nach dem Tod des Erzbischofs grenzte sich Adam mittels seiner "Gesta" verbal von ihm ab, was ihn offenbar nicht davon abhielt, sein Fälscherwerk unter Erzbischof Liemar fortzusetzen. Als Fälschung, die sich im Groben an der zu der Zeit gültigen Verteilung von nordelbischen Siedlungsräumen oder Machtbereichen orientiert haben mag, hat der "Limes Saxoniae" weder etwas mit den Verhältnissen zu Zeiten Kaiser Karls des Großen im frühen 9. Jahrhundert noch mit denen unter Kaiser Otto dem Großen anderthalb Jahrhunderte später zu tun. Diese Fälschung aus Adams Feder führte vielmehr später ein Eigenleben, wurde im Sinne von Eric Hobsbawm von bestimmten Kreisen als "erfundene Tradition" instrumentalisiert. Es ist an der Zeit, dieser Tradition die blinde Gefolgschaft aufzukündigen!
Günther Bock: Der "Limes Saxoniae" - keine karolingische Grenze! In: Jahrbuch Stormarn. 31, 2013, S. 13-30.